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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Mark sehr verwirrte, denn er widersprach so ziemlich allem, was er in den letzten Wochen und Monaten gedacht und selbst heute morgen noch empfunden hatte. War er nicht sicher gewesen, dieses Haus und vor allem seinen Hausherrn zu hassen? Hatte er nicht allen Grund, Groll gegen seinen Vater zu empfinden, den Mann, der ihm seine Jugend und seiner Mutter das Leben gestohlen hatte? Nichts hatte sich daran geändert. All diese Gefühle waren noch da, ebenso präsent wie am Morgen. Und trotzdem - es wurde ihm erst jetzt wirklich bewußt, aber im gleichen Moment, als er das Haus betreten hatte, war etwas in ihm geschehen. Er war nach Hause gekommen, zum ersten Mal seit sechs Jahren wirklich. Er war an dem Ort, an den er hingehörte.
    Er hatte das Ende der Treppe fast erreicht, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Marianne, die ihm wahrscheinlich nacheilte, um ihm die Tür zu offnen, sein Bett aufzuschlagen und ihn auf genau die aufdringlich liebenswerte Art zu bemuttern, auf die sie es vom Tag seiner Geburt an getan hatte. Wahrscheinlich, dachte er spöttisch, hatte sein Vater sie bereits instruiert, ihm das königliche Prinzgemach zu richten und ein Glas warme Milch mit Honig bereitzustellen. Das war auch etwas, was er ändern würde, und zwar schnell. Marianne war zwar tatsächlich so etwas wie eine Ersatzmutter für ihn - und in den letzten Jahren mehr, als es seine richtige Mutter je gewesen war -, aber er würde ihr trotzdem erklären, daß er nicht mehr acht, sondern achtzehn war und sich somit das eine oder andere in ihrem Verhältnis ändern mußte.
    Aber nicht heute. Nicht jetzt. Im Augenblick empfand er den Gedanken, ein wenig bemuttert zu werden, als ganz angenehm.
    Er trat von der letzten Stufe herunter und drehte sich herum, weil er ihre Nähe spürte, aber hinter ihm war nichts.
    Er spürte genau, daß er nicht allein war. Jemand war hier. Er spürte es, mit der unerschütterlichen Sicherheit eines Raubtieres, das Witterung aufgenommen hatte, dem Instinkt eines Blinden, der die unmerkliche Veränderung des Luftdrucks in seiner Nähe fühlte, er... wußte einfach, daß jemand hier war. Aber er war allein. Über ihm lag nichts als die Treppe und der perspektivisch abgeschnittene Rest des Korridors, und jetzt konnte er Marianne auch hören: Sie hantierte in der Küche unten mit Geschirr und summte dabei leise vor sich hin, wie sie es seit eh und je tat; und so falsch wie eh und je.
    Was?
    Marks Atem beschleunigte sich, und seine Hände begannen zu zittern. Was geschah hier? Was geschah mit ihm? Er machte einen unsicheren Schritt zurück, senkte den Blick und sah seinen Schatten, der als schwarzes Leporello vor ihm die Treppenstufen hinaufgefaltet war, aber er sah auch den anderen, zweiten Schatten, der dicht neben seinem eigenen stand, etwas kleiner, schlanker, der eines Mädchens oder einer sehr zierlichen Frau, ein Schatten, der keinen Körper hatte, sondern einfach nur da war, als hätte das Sonnenlicht oder der, der es schickte, einen Teil des Universums ausgelassen, vielleicht, weil es verboten war, weil dieser Teil etwas verbarg, dessen Anblick tödlich gewesen wäre, oder Schlimmeres.
    Mark fuhr herum und hätte durch die hastige Bewegung fast das Gleichgewicht verloren. Sein Herz hämmerte jetzt so schnell, als wollte es aus seiner Brust heraushüpfen. Er war allein. Allein. Niemand war hier. Nur er und der Schatten, und das unsichtbare Etwas, das ihn warf.
    Er strauchelte, fand mit einer instinktiven Bewegung am Treppengeländer Halt und preßte für eine Sekunde so fest die Lider zusammen, daß es weh tat und er bunte Sterne und Farbblitze sah. Als er die Augen wieder öffnete, war der Schatten verschwunden.
    Weil er nie dagewesen ist! Er versuchte sich zur Ruhe zu zwingen, bot jedes Quentchen Logik und Verstand und Selbstbeherrschung auf, das er noch in sich fand. Da war kein Schatten. Da war nie einer gewesen. Übermüdung, Streß, Angst, Zorn, Frustration und Verwirrung - es gab tausend
    gute Gründe, Halluzinationen zu haben, aber keinen einzigen, tatsächlich ein Gespenst zu sehen. Jedenfalls keinen guten.
    Doch das Wunder geschah. Gerade in dem Moment, in dem er spürte, wie die Barrieren aus Vernunft und logischem Überlegen zu wanken begannen, zog sich der Schrecken zurück. Sein Herz raste immer noch, und seine Hände zitterten so heftig, daß er es auch mit aller Macht nicht unterdrücken konnte, aber der schwarze Sumpf aus Wahnsinn, in dem er zu versinken begonnen hatte, war plötzlich

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