AZRAEL
»Und wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden? Mein Sohn und ich haben einiges zu besprechen. Sie finden allein den Weg hinaus, nehme ich an.«
Mark war nicht der einzige, den dieser plötzliche Ausbruch überraschte. Sein Vater war auch bisher nicht gerade freundlich zu den beiden Beamten gewesen. Trotzdem kam dieser kaum noch verhohlene Hinauswurf einer Hundertachtzig-Grad-Wendung gleich.
Sendigs Augen wurde noch schmaler, doch der Ausbruch, auf den Mark wartete, blieb aus. Er starrte seinen Vater nur noch einen Moment lang durchdringend an, ehe er sich mit einer ruckhaften Bewegung zur Tür wandte und ging. Sein uniformierter Kollege folgte ihm nach einem Augenblick - aber er hatte wenigstens den Anstand, Mark und seinem Vater zum Abschied zuzunicken. Mark erwiderte die Geste, während sein Vater den dunkelhaarigen Beamten nur finster anblickte.
Er sagte kein Wort, auch nicht, als die beiden das Zimmer verlassen hatten und ihre Schritte die Treppe draußen hinunterpolterten. Und selbst dann schwieg er beharrlich weiter, bis sie das Geräusch der Haustür hörten, die ins Schloß fiel. Und selbst dann war es Mark, der die Stille unterbrach, und nicht sein Vater.
»Was ist hier los?« fragte er geradeheraus. »Warum warst du so unfreundlich?«
»Unfreundlich?« Sein Vater lachte. »Nein. Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich wirklich unfreundlich werde.«
Das stimmte nicht, und sie wußten es beide. Sie wußten auch beide, was diese Antwort wirklich bedeutete: nämlich, daß sein Vater nicht weiter über dieses Thema reden wollte. Aber Mark war schließlich nicht hierhergekommen, um das alte Spiel nach den alten Regeln fortzusetzen, und so sagte er: »Sie tun nur ihre Arbeit. Und wenn einer deiner Angestellten
ums Leben kommt —«
»Löbach war nicht mehr unser Angestellter«, unterbrach ihn sein Vater scharf. »Ich habe ihn schon vor einem halben Jahr entlassen.«
»Warum?«
»Seit wann interessierst du dich für meine Firma?« schnappte sein Vater. »Aber bitte: Er hatte angefangen zu trinken. Ich habe keine Ahnung, warum, und ich will es auch nicht wissen. Frauen, nehme ich an. Oder Geld. Vielleicht auch beides. Was weiß ich. Ich habe ihn zweimal gewarnt und dann gefeuert.«
Das klang einleuchtend und entsprach auch durchaus dem Charakter seines Vaters — aber es überzeugte Mark trotzdem nicht endgültig. Er hatte Löbach zwar wirklich nicht besonders gut gekannt, aber immerhin wußte er, daß er einer der wichtigsten und vor allem ältesten Angestellten seines Vaters gewesen war. Einen solchen Mann feuerte man nicht einfach so w eil er ein Alkoholproblem hatte oder anderen Ärger.
»Und jetzt ist er tot«, sagte Mark.
»Das ist nicht meine Schuld«, blaffte sein Vater. »Was ist los mit dir? Bist du -« Er brach mitten im Satz ab, starrte Mark eine geschlagene Sekunde lang aus brennenden Augen an - u nd dann ging eine ganz erstaunliche Veränderung mit ihm vonstatten. Der Zorn, jener Ausdruck, den Mark so oft auf seinen Zügen gesehen hatte, daß er sich sein Gesicht manchmal schon gar nicht mehr anders vorstellen konnte, verschwand urplötzlich und wich etwas, das ihn an den Ausdruck in Mariannes Augen vorhin erinnerte, nur daß es bei seinem Vater viel verwirrender wirkte. Er atmete hörbar ein, entspannte sich sichtbar und sagte mit einer Sanftmut, die Mark erneut und noch mehr überraschte: »Lassen wir das, okay? Ich glaube, wir haben jetzt wohl Wichtigeres zu tun, als uns zu streiten. Wie geht es dir?«
Im ersten Moment verstand Mark die Frage nicht einmal wirklich; er argwöhnte eine der rhetorischen Fallen, in die sein Vater seine Gesprächspartner mit Vorliebe lockte – wobei er auch bei seinem eigenen Sohn keine Ausnahme gemacht hatte -, aber die Sorge in seinen Augen sah tatsächlich echt aus. Vorhin, als er den Gedanken das erste Mal erwogen hatte, hatte er nicht ernsthaft geglaubt, daß Prein seinem Vater wirklich die Geschichte von seiner Krankheit und dem Erholungsurlaub aufgetischt haben könnte. Aber es sah tatsächlich so aus, als wäre es so.
»Gut«, sagte er. »Ich bin nicht krank.«
»Ja, du siehst aus wie das blühende Leben«, sagte sein Vater ironisch.
»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Mark. »Aber das ist auch schon alles. Ich bin nicht krank, und ich war es auch nicht.«
»Aber dein Direktor -«
»— ist ein sehr netter Mann«, unterbrach ihn Mark. »Ich nehme an, er hat dir diese Geschichte erzählt, um mir einen Gefallen zu tun -
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