AZRAEL
habe dir zwar geantwortet, aber es war eine Lüge. Ich bin schon seit dem frühen Morgen in der Stadt, weißt du. Ich war bei Mutter.«
»Ich weiß«, sagte sein Vater gelassen. »Jemand aus dem Stift hat mich angerufen.«
»Wer?« fragte Mark scharf. Schwester Beate? Das war möglich, aber er konnte es sich kaum vorstellen - vielleicht, weil es ihn sehr enttäuscht hätte.
»Das spielt keine Rolle«, sagte sein Vater.
»Artner?« wollte Mark wissen. Es war ein Schuß ins Blaue, aber er schien getroffen zu haben, denn sein Vater fuhr ganz leicht zusammen. Er wirkte fast erschrocken. Aber er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Es spielt keine Rolle, wer es war. Und bevor du dich weiter aufregst - sie haben dich nur zu deiner Mutter gelassen, weil ich es ihnen gesagt habe.«
»Sehr großzügig«, sagte Mark zynisch. »Wie kann ich dir nur je dafür danken?«
»Zum Beispiel, indem du aufhörst, dich wie ein Idiot zu benehmen, und endlich anfängst, mit mir zu reden«, antwortete sein Vater ruhig. »Bist du nur hierhergekommen, um dich mit mir zu streiten? Das ist ein bißchen billig, findest du nicht?«
Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten, vielleicht nur ein Lichtreflex, der durch das Fenster hereinfiel. Trotzdem starrte Mark diese gar nicht vorhandene Bewegung eine geschlagene Sekunde lang an, ehe er antwortete: »Möglicherweise. Ich bin...« Er suchte nach Worten, aber plötzlich war sein Kopf wie leergefegt. Er war nur noch müde. Seine Glieder fühlten sich an wie Blei.
»Ach verdammt, ich weiß es nicht«, sagte er zornig. »Ja, vielleicht. Vielleicht wollte ich auch einfach nur weg aus dem Internat.«
»Das kann ich verstehen«, sagte sein Vater. »Ich mache dir einen Vorschlag: Du gehst in dein Zimmer und schläfst dich erst einmal gründlich aus. Wir essen heute abend zusammen, und dann reden wir. In aller Ruhe und von Mann zu Mann.«
Wann hatte er je in aller Ruhe mit seinem Vater reden können? dachte Mark. Oder gar von Mann zu Mann? Sein Vater behandelte niemanden wie einen gleichgestellten Partner. Manchmal fragte er sich, ob er überhaupt fähig war, für einen anderen Menschen irgendein Gefühl zu empfinden, das nicht Verachtung oder Ärger hieß. Aber er widersprach nicht, sondern zuckte nur mit den Achseln. Der Streit, auf den er innerlich vorbereitet war, hatte zwar gar nicht stattgefunden, aber er fühlte sich trotzdem so ausgelaugt, als läge er hinter ihm. Und als hätte er ihn verloren.
»Ich bin wirklich etwas müde«, gestand er. »Aber ich weiß nicht, ob wir heute abend zum Essen gehen können. Ich habe eine Verabredung. Ein Mädchen«, fügte er unaufgefordert hinzu.
»Ein Mädchen?« Sein Vater zog die Augenbrauen hoch. Offenbar war es Mark nun doch gelungen, ihn zu überraschen. »Hast du sie mitgebracht?«
»Nein«, antwortete Mark. »Sie ist hier aus Berlin.«
»Und du bist heute morgen erst angekommen? Das ging schnell.«
Und es geht dich nichts an, dachte Mark. Er antwortete nicht.
»Dann bring sie doch einfach mit«, sagte sein Vater. »Ich möchte deine Freunde gerne kennenlernen.«
»Warum?« wollte Mark wissen. »Um zu entscheiden, ob sie zu mir passen?«
»Nein«, sagte sein Vater. »Ich möchte sie einfach kennen, das ist alles.«
Mark wollte antworten, daß sich sein Vater noch nie für seine Freunde interessiert hatte, aber er schluckte die Bemerkung im letzten Moment herunter. Sie hätte zwar der Wahrheit entsprochen, aber eigentlich nur, weil er bisher niemals Freunde gehabt hatte. Außerdem war Schwester Beate nun wirklich nicht seine Freundin. Er kannte sie, das war alles. Er wußte nicht einmal, ob er überhaupt mehr wollte.
Wieder bewegte sich etwas an der Wand hinter seinem Vater, das gar nicht da war, und diesmal glaubte Mark für den Bruchteil einer Sekunde etwas wie einen menschlichen Schatten zu erkennen, aber zugleich auch nicht. Er widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich herumzudrehen. Verrückt.
»Was hast du?« fragte sein Vater alarmiert.
»Nichts. Was soll sein?«
»Du bist plötzlich blaß geworden. Ist dir nicht gut?«
»Nein«, antwortete Mark. »Das heißt: nein, mir ist nicht ni c ht gut. Ich bin ziemlich übermüdet, das ist alles. Ich habe im Zug kaum geschlafen.«
»Unangenehme Mitreisende?«
»Unangenehme Träume « , antwortete Mark. »Okay - vertagen wir den Showdown auf heute abend oder morgen. Ich lege mich ein paar Stunden hin. Ich nehme an, du hast jetzt sowieso viel zu tun. Schließlich mußt du
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