AZRAEL
Er klang jetzt alarmiert. »Ist Ihnen nicht gut? Was haben Sie da?«
Irgendwie gelang es Bremer schließlich doch, seinen Blick von der Fotografie loszureißen, aber er konnte immer noch nicht antworten. Vielleicht wollte er es auch gar nicht. Vielleicht hatte er Angst, auszusprechen, was er sah. Statt dessen drehte er das Blatt herum, so daß nun auch Sendig die Fotografie sehen konnte. Die Bewegung beanspruchte nicht einmal eine halbe Sekunde, aber in dieser winzigen Zeitspanne flehte Bremer darum, daß er sich getäuscht haben möge; daß Sendig ihn einfach nur verständnislos anblicken oder auch eine seiner gefürchteten spitzen Bemerkungen loslassen würde, alles - nur nicht, daß es wahr war.
Aber Sendig sah ihn nicht verständnislos an. Er machte auch keine ironische Bemerkung. Er starrte nur auf das Foto und sagte kein Wort, aber Bremer konnte selbst in der schwachen Beleuchtung hier drinnen deutlich sehen, daß sich sein Gesicht kreidebleich färbte.
14. Kapitel
D ie Bibliothek kam ihm größer vor als sonst — und irgendwie stiller, als fehle etwas. Vielleicht lag es daran, daß er sehr selten allein hiergewesen war. In den letzten Jahren war er ja ohnehin nicht oft zu Hause gewesen, und eigentlich hatte er den Raum niemals betreten, ohne daß sein Vater dagewesen war. Der Anblick seines Vaters, der hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß, telefonierte, an irgendwelchen Papieren ar b eitete oder einfach nur dasaß, gehörte so untrennbar zu Marks Erinnerungen an diesen Raum wie die bis unter die Decke reichenden vollgestopften Bücherregale, das große Fenster in der Südseite mit seinen vielfarbigen Bleiglasscheiben und der Kamin, dessen Wände und Sturz schwarz von Ruß waren, obwohl Mark sich nicht erinnern konnte, ihn jemals brennen gesehen zu haben. Beinahe kam ihm die Situation absurd vor: Er war schließlich hier heraufgekommen, um nicht in der Nähe seines Vaters sein zu müssen, und trotzdem vermißte er ihn - und sei es nur aus Gewohnheit. Aber vielleicht bestand ja auch sein Leben weit mehr aus Gewohn heiten, als ihm bisher klar gewesen war.
Er schloß die Tür hinter sich, blieb einen Moment dagegengelehnt und mit geschlossenen Augen stehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war scheinbar ganz ruhig. Aber eben nur scheinbar. Auf einer - nicht sehr viel - tiefer gelegenen Ebene seines Denkens war er aufgewühlt und nervös; wenn er sich bisher geweigert hatte, über Marianne nachzudenken, dann nicht, weil ihm das, was geschehen war, gleich gewesen wäre oder ihn gar kalt gelassen hätte, sondern einzig, weil über sie nachzudenken auch bedeutet hätte, sich zugleich wieder dem Grund dieses schrecklichen Unfalls zu stellen: dem Traum. Wenn es ein Traum war.
Mark lächelte nervös. Was sollte es sonst gewesen sein? Er begriff im allerletzten Moment, daß er nun doch begonnen hatte, über genau das nachzudenken, vor dem er eigentlich davonlaufen wollte, und drängte den Gedanken mit Macht z urück. Wenigstens versuchte er es. Natürlich ging es nicht. Es war die alte Geschichte von dem Schatz und dem weißen Pferd: Versprich einem Mann einen Topf voller Gold, wenn er nicht an ein weißes Pferd denkt, und natürlich wird er an nichts anderes mehr denken können. Es hatte eine Zeit gegeben (sie lag ungefähr zwölf Stunden zurück), da hätte er über diesen Vergleich gelächelt. Jetzt machte er ihm Angst .
Um sich abzulenken, löste er sich von seinem Platz an der Tür und begann ziellos im Raum umherzugehen. Sein Blick glitt über die ordentlich aufgereihten Buchrücken in den Regalen, verharrte bei dem einen oder anderen Titel und suchte nach irgend etwas, woran er sich festklammern, was ihn auf andere Gedanken bringen konnte. Aber die Bücher waren nicht sehr ergiebig. Es gab einige wenige Romane - sie waren fast allesamt ungelesen - und eine schier unüberschaubare Flut von Fachliteratur von seinem Vater. Die gesamte Bibliothek gehörte seinem Vater, und bei allem, was zwischen ihnen gewesen war, begann er manchmal zu vergessen, daß sein Vater nicht nur ein sehr harter, sondern auch ein sehr gebildeter Mann war, ein Mann, der seinen Beruf liebte und wirklich gut darin war und der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte und es immer noch tat, zu lernen.
Vielleicht war es falsch gewesen, hierher zu kommen, dachte Mark. Hier oben war er in Gesellschaft seines Vaters, denn dieser Raum war so sehr Teil von ihm, wie es ein Zimmer nur sein konnte. Er trat vom
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