Der Berg der Sehnsucht: Big Sky Mountain (German Edition)
1. KAPITEL
Schweißtropfen liefen Hutch Carmody über den Rücken. Er hatte das Gefühl, als stünde er kurz davor, sich in eine laufende Kreissäge zu stürzen. Der geliehene Smoking kratzte auf der Haut, und der Kragen schien jedes Mal ein wenig enger zu werden, wenn er den Blütengeruch einatmete.
Die Luft war zum Schneiden dick und machte ihm das Atmen schwer. An diesem sonnigen Tag Mitte Juni war es in der kleinen Kirche auch viel zu warm. Auf den Holzbänken drängten sich die Gäste, die ja nichts verpassen wollten, dazwischen saßen ein paar in Tränen aufgelöste Frauen und nicht wenige Skeptiker.
Hutchs Trauzeuge Boone Taylor stand neben ihm und trat von einem Bein auf das andere.
Plötzlich stimmte der Organist einen durchdringenden Akkord an, gefolgt von einer fröhlichen Melodie, die Hutch nicht erkannte. Die erste der drei Brautjungfern, deren alberne rosafarbene Kleider seiner Meinung nach besser zu kleinen Mädchen als zu erwachsenen Frauen passten, ging in die Kirche und näherte sich gemessenen Schrittes dem Altar, wo sie Hutch und Boone gegenüber ihren Platz einnahm.
Vor Hutchs Augen begann sich alles zu drehen, doch er riss sich schnell wieder zusammen und rief sich ins Gedächtnis, dass seine Ranch nur ein paar Meilen außerhalb der Stadt lag und er sicher noch mit neunzig damit aufgezogen werden würde, falls er am Tag seiner Hochzeit vor dem Altar in Ohnmacht fiel.
Als sich die nächste Brautjungfer auf den Weg zum Altar machte, gab Hutch sich alle Mühe, keinen Blick auf seine Zukünftige Brylee Parrish zu werfen, die ganz hinten bei ihrem Bruder Walker am Eingang zur Kirche wartete. Er wusste nur zu gut, wie sie in ihrem über Generationen weitervererbten Hochzeitskleid mit dem wallenden Schleier und dem funkelnden Strassbesatz aussah.
Brylee war wunderschön, sie hatte volles rotbraunes Haar, das ihr bis zur Taille reichte, wenn sie es offen trug. Ihre nussbraunen Augen versprachen Leidenschaft, die sich mit überragender Intelligenz, Humor und jener Sachlichkeit paarte, mit der die Mädchen vom Land schon zur Welt kamen.
Er konnte sich glücklich schätzen.
Brylee konnte von sich nicht dasselbe behaupten, war sie doch an einen Mann wie ihn geraten, obwohl sie einen Ehemann verdiente, der sie auch liebte.
Plötzlich schaute sein Halbbruder Slade Barlow ihn an. Er saß in der vordersten Reihe zusammen mit seiner hochschwangeren Ehefrau Joslyn und schüttelte den Kopf, als könnte er nicht fassen, was sich da vor seinen Augen abspielte. Sein Gesichtsausdruck war so ernst, dass man hätte meinen können, hier fände eine Totenfeier statt, nicht jedoch die Hochzeit einer der fantastischsten Frauen, die Parable County je hervorgebracht hatte.
Hutchs Magen verkrampfte sich.
Die letzte Brautjungfer hatte ihren Platz eingenommen.
Der Geistliche stand vor ihm und wartete.
Der Duft der Blumen verstärkte sich und schien Hutch beinahe die Luft zu rauben.
Und dann ertönten die ersten Takte des Hochzeitsmarschs.
Wieder begann sich der Raum um Hutch zu drehen.
Brylee, die hinter ihrem hauchdünnen Schleier strahlend lächelte, reagierte mit einem Nicken auf etwas, das ihr Bruder ihr zuflüsterte, dann trat sie einen Schritt nach vorn.
„Einen Moment“, hörte sich Hutch plötzlich laut genug sagen, damit er die Orgel übertönen konnte. Er hob beide Hände wie ein Schiedsrichter, der eine Partie wegen eines Foulspiels unterbrach. „Halt!“
Im nächsten Moment kehrte Totenstille ein, sogar die Orgel verstummte.
Die Braut und ihr Bruder blieben stehen und schauten ihn verwundert an.
Hutch hätte schwören können, dass sich nicht nur hier in der Kirche niemand mehr regte, sondern dass Zeit und Raum scheinbar zum Erliegen gekommen waren.
„Das ist einfach verkehrt“, sagte er leise. Er sprach das Thema nicht zum ersten Mal an. Vielmehr versuchte er seit Wochen, mit Brylee darüber zu reden und Klarheit zu schaffen. Erst gestern Abend hatte er sich wieder mit ihr in der Silver Lanes Snackbar zusammengesetzt und ihr erklärt, die Hochzeit bereite ihm erhebliche Bedenken und er brauche erst einmal eine Auszeit, um in Ruhe über alles nachzudenken.
Brylee war sofort in Tränen ausgebrochen, woraufhin ihre Mascara verlaufen war, und hatte erwidert: „Das meinst du doch gar nicht so!“ Es war ihre Standardantwort auf jeden seiner Versuche, die Notbremse zu ziehen, noch bevor der Punkt erreicht war, an dem es kein Zurück mehr für sie gab. „Du bist bloß nervös, das ist alles.
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