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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Mark scharf. »Nur ein Alptraum. So etwas kommt vor. Ich brauche keinen Arzt, Doktor Petri.«
    »Ich frage auch nicht als Arzt, sondern als Freund«, antwortete Petri. Marks bewußt unfreundlichen Ton ignorierte er mit der Gelassenheit eines Mannes, der einen Großteil seines Lebens mit Menschen zu tun hatte, die plötzlich mit dem Ende der Legende ihrer eigenen Unverwundbarkeit konfrontiert wurden und in ihrer Verbitterung einen Verantwortlichen
    suchten.
    Freund? Um ein Haar hätte Mark schrill aufgelacht. Petri war alles, nur nicht sein Freund. Plötzlich empfand er ein so intensives Gefühl der Abneigung gegen diesen kleinen, dünnen Mann, der bei genauem Hinsehen doch so alt war, wie er ihn in Erinnerung hatte, daß es ihm schwerfiel, nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Dieser Mann war sein Feind ebenso wie sein Vater, wie Löbach und Prein und all die anderen, die Schuld daran trugen, daß sein Leben gescheitert war, bevor es richtig begonnen hatte. Er war vollkommen allein in einer Welt voller Feinde und unbekannter Gefahren, eingesperrt in eine unsichtbare Zelle, an deren Tür die Alpträume kratzten und -
    Aufhören!
    Der Befehl, obwoh l er ihn sich selbst gegeben hat te, zeigte Wirkung. Seine Gedanken hörten auf, sich in der Endlosschleife zu drehen, in die sie sich verfangen hatten, und plötzlich begriff er, wie lächerlich sie gewesen waren. Lächerlich, aber nicht im geringsten komisch. Er fragte sich, ob es für alles, was er seit gestern abend erlebt hatte, nicht vielleicht eine ebenso simple wie erschreckende Erklärung geben mochte: daß er dabei war, den Verstand zu verlieren. Möglicherweise erlebte er den Anfang einer beginnenden Paranoia. Und warum nicht? Viele Geisteskrankheiten waren erblich, und schließlich saß seine Mutter seit Jahren im Irrenhaus, und -
    »Mark?«
    Erst, als Petri ihn am Arm berührte und mit ziemlicher Kraft zugriff, wurde ihm klar, daß der Arzt ihn schon mindestens zwei- oder dreimal angesprochen hatte. »Was ist denn los mit Ihnen?«
    »Nichts.« Mark machte sich mit sanfter Gewalt los und wollte einen Schritt zurückweichen, konnte es aber nicht, weil er schon unmittelbar vor dem Regal stand. Aber Petri schien instinktiv zu spüren, wie es in ihm aussah. Instinktiv? Mark begegnete dem Blick seines Vaters, und was er darin las, machte ihm klar, daß seine Gedanken wie mit glühenden Lettern geschrieben auf seinem Gesicht abzulesen sein mußten. Der Arzt wich selbst einen Schritt zurück und lächelte, ließ Mark aber keine Sekunde aus den Augen.
    »Sie sind leichenblaß, und Sie zittern am ganzen Leib«, konstatierte Petri. »Erzählen Sie mir also nicht, daß Sie sich pudelwohl fühlen. Ich bin seit dreißig Jahren Arzt.«
    »Die Geschichte mit Marianne ist mir ziemlich nahegegangen«, sagte Mark. Petris Blick blieb zweifelnd, und nach ein paar Augenblicken fügte er in leicht gereiztem Ton hinzu: »Außerdem habe ich eine anstrengende Nacht hinter mir und kaum geschlafen. Ich behaupte nicht, daß ich mich pudelwohl fühle.«
    »Ich möchte Sie untersuchen«, sagte Petri.
    »Wozu? Mir fehlt nichts.«
    »Der Direktor deines Internats hat mir etwas anderes erzählt«, mischte sich sein Vater ein. »Immerhin hat er dich nach Hause geschickt, weil du längere Zeit krank warst.«
    »Hat er nicht«, sagte Mark. Sein Vater legte fragend den Kopf auf die Seite, und Marks Vermutung wurde zur Gewißheit: Prein hatte ihm wohl tatsächlich genau diese Geschichte erzählt, um Mark zu schützen; nur für alle Fälle, falls er es sich auf dem Weg nach Berlin vielleicht doch noch überlegt und in Erwägung gezogen haben sollte, zurückzukommen. Nein, er wollte ihm keine Schwierigkeiten bereiten.
    »Oder doch. Er hat vielleicht geglaubt, daß ich krank war. Ich habe simuliert.«
    »Warum?«
    Das Problem mit einer Lüge war, dachte Mark, daß sie meistens eine weitere nach sich zog, und dann noch eine und noch eine, bis man sich schließlich an der Spitze eines Lügengebäudes wiederfand, das unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen begann. Wahrscheinlich war es im Moment das klügste, wenn er seinem Vater die Antwort auf diese Frage schuldig blieb. Für einige Sekunden kehrte eine sehr unangenehme Stille ein.
    »Also gut«, sagte Petri schließlich. Er klang ein bißchen enttäuscht. »Ich kann Sie leider nicht zwingen, vernünftig zu sein. Aber ich würde Sie wirklich in den nächsten Tagen gerne einmal in meiner Praxis sehen. Nur so, für einen allgemeinen Check-up.

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