AZRAEL
Winkel seines Körpers verschoß, und er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und gleichzeitig das Blut aus seinem Kopf wich. Plötzlich schien sich das Zimmer um ihn zu drehen, und jetzt hörte er auch den Herzschlag wieder, ein dumpfes, nachhallendes Hämmern, zu schwer und zu langsam für den eines Menschen.
Für einen Moment glaubte er verschwommene Gestalten zu erkennen, die rings um ihn herum auf dem Boden saßen und sich an den Händen hielten, und durch die farbigen Buchrücken auf den Regalen schimmerte zerbröckelnder grauer Betonputz.
Nein, dachte er verzweifelt. Nein!
Es war zu spät. Die Schemen verdichteten sich zu Schatten. Die Tür in den Alptraum war geöffnet, bisher vielleicht nur einen winzigen Spaltbreit, und doch schon viel zu weit, um sie wieder zu schließen, denn da war plötzlich noch etwas, eine unvorstellbare Kraft, die sie weiter öffnete, die herüberdrängte, heraus aus der Welt des Unvorstellbaren in die des realen Schreckens. Die Schatten verdunkelten sich weiter, drohten zu Körpern zu werden und Gesichter zu bekommen. Und da war noch etwas. Das Ding, das plötzlich einen Namen bekommen hatte und damit Wahrhaftigkeit.
Die Tür wurde geöffnet, und sein Vater trat in Begleitung des Arztes herein, und im gleichen Moment zerplatzte die Vision wie eine Seifenblase - zurück blieb eine tiefe, allumfassende Leere, die sich jedoch bereits mit der vagen Ahnung ei n er kommenden Furcht zu füllen begann, die zwar noch immer gestalt-, aber nicht mehr namenlos war, und die ihn vielleicht schon jetzt vollends überwältigt hätte, wenn die beiden Männer auch nur einen Augenblick später erschienen wären. Mark fuhr mit einem Ruck hoch und schlug den Aktendeckel mit einer so heftigen Bewegung zu, daß Petri und sein Vater erstaunt mitten im Schritt innehielten und ihn anstarrten. Petri sah einfach nur verwirrt aus, während sein Vater für den Bruchteil einer Sekunde wieder auf die gleiche unerklärliche Weise alarmiert wirkte, die Mark an diesem Tag schon mehrmals an ihm beobachtet hatte. Dann erkannte er wohl die Ursache des Geräusches, und aus Erschrecken wurde für einen noch winzigeren Moment beinahe Entsetzen, dann Zorn. Einen Augenblick später hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Mark?« fragte Petri. Er lächelte, wirkte aber trotzdem weiter beunruhigt. »Was ist mit Ihnen? Sie sind ja ganz blaß. Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Mark trat hastig einen weiteren Schritt nach hinten und versuchte, Petris Lächeln zu erwidern. »Es ist nichts«, sagte er. »Ich bin nur... nervös. Wie geht es Marianne?«
»Sie schläft«, antwortete Petri. »Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Mark. Ihr fehlt nichts Ernstes. Ein paar Stunden Ruhe und ein kalter Umschlag, damit die Schwellung zurückgeht, und sie ist wieder völlig in Ordnung. Aber was ist denn nun überhaupt passiert?«
Petri kam näher, während Marks Vater die Tür schloß und ihm zugleich einen fast beschwörenden Blick zuwarf. Mark ignorierte ihn. Es war ihm völlig gleich, was sein Vater Petri erzählt hatte oder nicht.
»Es war meine Schuld«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe sie niedergeschlagen. Und ihr ist wirklich nichts Schlimmes passiert?«
Das war ganz bestimmt nicht das, was sein Vater hören wollte; vermutlich auch nicht das, was dieser Petri gerade erzählt hatte, wie der erstaunte Ausdruck auf dem Gesicht des Arztes vermuten ließ.
»Niedergeschlagen? «
Mark hob die rechte Hand und ballte sie für einen kurzen Moment zur Faust. »Nicht absichtlich«, sagte er. »Ich hatte einen Alptraum. Ich muß wohl geschrien haben. Sie wollte mich wecken, und ich habe um mich geschlagen - «
» - und die arme Marianne getroffen«, führte Petri den Satz zu Ende. »So etwas kann passieren, Mark. Sie brauchen sich wirklich keine Vorwürfe zu machen.«
»Wenn es überhaupt so war«, mischte sich sein Vater ein. »Mark ist aufgewacht, und da lag sie am Boden, das ist alles, was er weiß.«
»Ja, und meine Hand tut weh, Marianne ist bewußtlos, und ich habe geträumt, daß ich nach einem Gespenst geschlagen habe«, fügte Mark scharf hinzu. »Das ist alles, was ich weiß. Reicht das nicht?«
Petri mußte wohl spüren, daß zwischen ihnen noch sehr viel mehr war, was nicht ausgesprochen wurde, denn er hob besänftigend die Hand und wechselte plötzlich in einen anderen, berufsmäßigeren Ton. »Ein Alptraum? Darf ich fragen, was-«
»Nein«, unterbrach ihn
Weitere Kostenlose Bücher