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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hatte es stets verstanden, ganz ruhig zu bleiben und dabei trotzdem so verletzend wie eine Rasierklinge zu sein. Er war der einzige Mensch, den Mark kannte, der schreien konnte, ohne dabei laut zu werden.
    Dafür war Mark beinahe zum Heulen zumute. Er wußte, was nun kam, und er wußte auch, daß er nicht die geringste Chance hatte. Es war wie gestern nacht mit Prein: Er war mit dem festen Vorsatz hierhergekommen, diesen Kampf auszutragen, aber er machte alles falsch, was er nur falsch machen konnte. Seine Vorbereitungen waren gut, seine Argumente waren gut, aber das Timing war miserabel. Was nutzten die besten Waffen, wenn man sie sich ohne Gegenwehr aus der Hand schlagen ließ?
    »Und was war das mit dem Internat?« fuhr seih Vater fort. Er kam näher, und wieder mußte Mark sich beherrschen, um nicht automatisch vor ihm zurückzuweichen. So, wie er schreien konnte, ohne laut zu werden, konnte er sich auch drohend bewegen, ohne irgend etwas wirklich zu tun. Er war weder besonders groß noch außergewöhnlich kräftig; und trotzdem hatte er in diesem Moment etwas von einer Lawine, die sich vielleicht nicht ei nmal besonders schnell, aber un aufhaltsam auf ihn zubewegte. »Dein Direktor hat mich heute morgen angerufen und mir mitgeteilt, daß du eine schwere Grippe hinter dir hättest. Aber offenbar hat er mich angelogen.«
    »Offenbar«, antwortete Mark trotzig. »Er wollte mich wohl in Schutz nehmen.«
    »Und du ihn.«
    »Und?« fragte Mark herausfordernd. »Vielleicht wollte ich nicht, daß du über ihn herfällst und ihn auf deine übliche Art fertigmachst.«
    »Ich mache niemanden fertig«, antwortete sein Vater betont. »Ich schätze es nur nicht, belogen zu werden, das ist alles.«
    »Genauso wenig wie ich.«
    »Das klingt gut.« Sein Vater ging zum Tisch, leerte das Glas, das er für sich eingeschenkt hatte, mit einem Zug und nahm fast in der gleichen Bewegung das des Doktors zur Hand. Ohne Mark anzusehen, fügte er hinzu: »Und wann, bitte, habe ich dich belogen?«
    Mark schwieg. Er hätte diese Frage erwarten müssen, wußte aber keine Antwort darauf. Er hatte gerade eine neue Lektion gelernt: Rhetorik allein half auch nicht weiter. Wenn er noch eine Chance haben wollte, aus dieser Runde nicht wieder als eindeutiger Verlierer herauszugehen, mußte er in die Offensive gehen.
    »Also?«
    »Du hättest es mir sagen können!« sagte Mark mit einer Geste auf den Aktendeckel.
    »Löbach?« Sein Vater schnaubte. »Du warst doch hier, als diese beiden freundlichen Polizisten mir ihre Aufwartung gemacht haben, oder? Und wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir hinterher darüber gesprochen. Ziemlich ausführlich sogar.«
    »Und das Bild?« fragte Mark.
    »Ich wollte dir den Anblick ersparen«, antwortete sein Vater. »So hübsch ist es nicht.«

» Dieses Bild meine ich nicht.« Mark ging zum Tisch, klappte den Aktendeckel auf und fegte das Bild des toten Chemikers mit einer zornigen Handbewegung zur Seite. »Ich meine das hier. «
    Sein Vater hatte sich - wenigstens äußerlich — vollkommen in der Gewalt. Er blieb ganz ruhig, während Mark das Foto mit beiden Händen ergriff und es fast triumphierend in die Höhe hob. »Also?«
    Er hätte das Bild nicht anfassen sollen. Wahrscheinlich war es Einbildung, ein übriggebliebenes Teil des wieder zerbrochenen Puzzles, das sich irgendwie auf die falsche Seite der Barriere verirrt hatte, aber für einen Moment hatte er das Gefühl, daß sich das dicke Blatt unter seinen Fingern... bewegte. Es schien zu pulsieren, als wäre es kein Stück Papier, sondern ein Kokon, in dem etwas Lebendiges, Fleischiges war, das sich bewegte und hinauswollte.
    »Was bedeutet das?« fragte er mühsam. Sein Herz jagte - aber war es wirklich sein eigener Pulsschlag, den er hörte, oder war es das dumpfe steinerne Schlagen eines Alptraumherzens?
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte sein Vater. Er klang überzeugend - aber seine Hände verrieten ihn. Als er das Glas hob und einen winzigen Schluck trank, zitterten sie. »Die Polizei hat mich dasselbe gefragt, und ich habe ihnen dasselbe geantwortet wie dir jetzt: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wahrscheinlich war Löbach vollkommen verrückt. Die Polizei hat Drogen in seiner Wohnung gefunden.«
    Das Bild bewegte sich jetzt ganz deutlich in seinen Händen. Er konnte es sehen. Wieso sah sein Vater es nicht?
    »Du lügst!« sagte er.
    Obwohl er nahe daran war, vor Angst laut aufzuschreien, konnte er das Foto nicht loslassen. Es pulsierte

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