AZRAEL
immer heftiger in seinen Händen. Es atmete.
»Kaum«, antwortete sein Vater gelassen. »Ich lüge nur, wenn es nötig ist. Und hier ist es nicht nötig. Warum sollte ich dich anlügen? Worüber?«
Etwas kratzte an den Wänden. Von innen. Unsichtbare Klauen aus stahlhartem Horn fuhren scharrend über Putz und Beton. Was geschah mit ihm? Begann es jetzt auch tagsüber? Im Wachen? Verlor er jetzt wirklich den Verstand?
»Was bedeutet dieses Wort?« beharrte er. »Du weißt es.«
»Azrael?« Sein Vater zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck. »Irgend etwas aus der Bibel... Der Name eines Engels, glaube ich. Warum?«
»Weil ich ihn kenne«, antwortete Mark. Es fiel ihm immer schwerer, überhaupt noch zu reden. »Ich habe von ihm geträumt, in der vergangenen Nacht und auch vorhin. Als ich Marianne niedergeschlagen habe, da habe ich mich gegen ihn gewehrt.«
»Gegen einen Engel? Sein Vater lachte, aber irgendwie klang es eher wie das Bellen eines Hundes. Eines sehr großen Hundes. »Wird das jetzt hier eine Geistergeschichte? Ich meine - fängst du mittlerweile an, Stimmen zu hören?«
Irgendwie gelang es Mark endlich, das Bild fallen zu lassen. Es flatterte auf die Tischplatte hinab und drehte sich dabei so, daß die belichtete Seite oben lag und Mark die dunkelroten Buchstaben weiter lesen konnte.
»Ich weiß nur, daß ich seit zwei Tagen schlechte Träume habe«, antwortete er, »und daß du mir etwas verschweigst. Was bedeutet Azrael?«
»Das habe ich dir gesagt«, antwortete sein Vater. »Und mehr weiß ich nicht. Aber ich beginne mich mittlerweile etwas anderes zu fragen, Mark. Was bedeutet dein Verhalten?«
»Lenk nicht ab«, sagte Mark, aber sein Vater machte nur eine zornige Geste.
»Das tue ich nicht«, sagte er. »Fällt dir eigentlich nicht selbst auf, wie du dich benimmst, seit du nach Hause gekommen bist?«
»Ich benehme mich -«
»- wie ein dummer Junge, der nicht weiß, was er will! Mark, ich habe versucht, dieses Gespräch zu vermeiden, aber ich fürchte, das war ein Fehler. Sprechen wir uns aus. Hier. Jetzt.«
Mark deutete auf das Bild. »Darüber?« Seit er es nicht mehr in der Hand hielt, fühlte er sich besser. Der Schrecken war noch da, aber er klang jetzt rasch ab.
»Nein, verdammt noch mal, nicht darüber! « Sein Vater fegte die Fotografie mit einer zornigen Bewegung vom Tisch. »Über dich! Was zum Teufel ist eigentlich in dich gefahren? Du hast also die Schule hingeschmissen, um nach Hause zu kommen, und ich nehme auch nicht an, daß du wieder dorthin zurückkehren willst? Was hast du jetzt vor?«
»Das hatten wir schon, oder?«
»Ja. Aber noch nicht zu Ende diskutiert.«
»Und das habe ich auch nicht vor«, sagte Mark scharf. »Und wenn du es ganz genau wissen willst, ich bin auch nicht nach Hause gekommen. Ich habe nicht vor, lange hierzubleiben.«
»Selbstverständlich nicht« Sein Vater seufzte erneut und sehr tief. »Du bist nur hierhergekommen, um mir einmal so richtig die Meinung zu sagen, nicht wahr? Und was hast du
als nächstes vor? Willst du nach Australien auswandern und Kängurus züchten?«
»Ich will -«
»Du weißt gar nicht, was du willst«, behauptete sein Vater. Er leerte sein Glas, stellte es mit einer übertrieben heftigen Bewegung auf den Tisch zurück und ließ fast eine Minute
verstreichen, ehe er fortfuhr: »Du willst einfach nur protestieren. Dich auflehnen. Aber wogegen? Gegen mich? Bitte. Sag mir, was du zu sagen hast, wenn du glaubst, dich dann wohler zu fühlen. Wer weiß, vielleicht habe ich ja wirklich Fehler gemacht, ohne es zu merken. Ich werde dir zuhören. Also?«
Aber darüber wollte er nicht reden. Nicht jetzt. Er wollte über dieses Bild reden und über seine Träume. Und trotzdem: Jetzt, wo sein Vater das Thema einmal angesprochen hatte, antwortete er beinahe ohne sein Zutun. »Fehler? Ja, so kann man es auch nennen. Du hast mich bestohlen!«
Interessant«, sagte sein Vater ruhig. »Und was habe ich dir gestohlen?«
»Meine Jugend«, antwortete Mark. »Die letzten sechs Jahre meines Lebens. Und meine Mutter.«
Das saß. Sein Vater zog den Kopf zwischen die Schultern. E r sagte nichts, doch Mark spürte, daß er seine Selbstsicherheit vielleicht zum ersten Male wirklich erschüttert hatte. »Glaubst du das wirklich?« fragte er.
»Ich glaube, daß ich die letzten sechs Jahre nicht in diesem verdammten Internat zubringen wollte«, antwortete Mark. »Ich glaube, daß ich ein ganz normales Elternhaus haben wollte.
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