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guten Verhandlungsführung ist, ganz gleich, welche Art von Persönlichkeit man hat.
Also begann Laura schließlich das zu tun, was ihr lag.
»Lassen Sie uns noch einmal einen Schritt zurückgehen. Worauf basieren Ihre Zahlen?«, fragte sie.
»Könnten Sie sich vorstellen, das Darlehen auf diese Art zu strukturieren? Könnte das Ihrer Meinung nach gehen?«
»Oder auf diese Art?«
»Oder auf irgendeine andere Art?«
Am Anfang fragte sie zögernd. Doch dann kam sie in Fahrt, wurde energischer und ließ durchblicken, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte und bei den Fakten keine Zugeständnisse machen würde. Sie blieb aber auch ihrem eigenen Stil treu und hob weder die Stimme, noch verlor sie die Beherrschung. Jedes Mal, wenn die Banker ihr gegenüber einen scheinbar unverrückbaren Standpunkt vorbrachten, versuchte Laura, konstruktiv vorzugehen: »Wollen Sie damit sagen, dass das der einzige Weg ist? Wie wäre es, wenn wir es anders angehen würden?«
Schließlich veränderte sich dank ihrer einfachen Nachfragen die Stimmung im Raum, ganz wie es in den Lehrbüchern über Verhandlungstechnik steht. Die Banker stellten ihren Redeschwall und ihr Dominanzgehabe ein, ein Verhalten, dem Laura sich denkbar schlecht gewappnet gefühlt hatte. Stattdessen kam ein wirkliches Gespräch in Gang.
Es gab weitere Diskussionen und noch immer keine Einigung. Einer der Banker drehte wieder auf, warf seine Akten auf den Tisch und stürmte aus dem Raum. Laura ignorierte dieses Manöver, einfach deshalb, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Später sagte ihr jemand, dass sie genau in diesem entscheidenden Augenblick ein gutes »Verhandlungs-Jiu-Jitsu« bewiesen habe, doch sie wusste, dass sie sich nur so verhalten hatte, wie man es als stiller Mensch in einer Welt der Sprücheklopfer ganz von selbst zu tun lernt.
Am Ende kam eine für beide Seiten akzeptable Einigung zustande. Die Banker gingen, und Lauras Lieblingsklienten flogen nach Hause, nachdem die finanzielle Katastrophe abgewendet worden war. Dafür war Laura dankbar: Die anderen konnten ihr normales Leben wieder aufnehmen, und sie konnte es sich mit einem Buch gemütlich machen und versuchen, die Spannungen des Tages zu vergessen.
Doch am nächsten Morgen bot ihr die Chefanwältin der Banker, die einschüchternde Frau mit dem kantigen Kinn, einen Job an: »Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so freundlich und gleichzeitig so bestimmt ist«, sagte sie. Am Tag danach rief auch der Chefbanker bei Laura an und fragte sie, ob ihre Anwaltskanzlei künftig seine Firma vertreten wolle. »Wir brauchen jemanden, der uns hilft, Verhandlungen zu führen, ohne dem Ego Raum zu geben«, sagte er. Laura hatte dadurch, dass sie ihrer eigenen sanften Art treu geblieben war, einen neuen Kunden für ihre Kanzlei gewonnen und ein Jobangebot für sich selbst an Land gezogen. Laut zu werden und auf den Tisch zu hauen hatte sich als unnötig erwiesen.
Heute weiß Laura, dass ihre Introvertiertheit ein essenzieller Bestandteil ihrer selbst ist, und sie akzeptiert ihr nachdenkliches Wesen. Das Endlosband in ihrem Kopf – der Vorwurf, zu still und zu bescheiden zu sein – läuft nicht mehr so oft. Laura weiß, dass sie sich behaupten kann, wenn es darauf ankommt, aber sie arbeitet nicht mehr als Anwältin an der Wall Street, weil sie den Konfrontationsexzessen der Finanzwelt aus dem Weg gehen will. Stattdessen setzt sie die Kraft ihres stillen Wesens lieber als Autorin, Beraterin und Inhaberin einer eigenen kleinen Firma im Bereich neue Medien ein. Laura liebt diese Arbeit, nicht zuletzt, weil sie ihrer Persönlichkeit voll und ganz entspricht.
Was genau meine ich, wenn ich sage, dass Laura introvertiert ist? Als ich begann, dieses Buch zu schreiben, wollte ich als Erstes herausfinden, wie Wissenschaftler Introversion und Extraversion (oft auch als Extrov ersion bezeichnet) definieren. Ich wusste, dass der einflussreiche Psychologe C. G. Jung 1921 ein wegweisendes Buch mit dem Titel Psychologische Typen herausgebracht hatte, 14 in dem er die Begriffe introvertiert und extravertiert als zentrale Bausteine der Persönlichkeit bekannt machte. Introvertierte fühlen sich zur inneren Welt des Denkens und Fühlens hingezogen, sagte Jung, Extravertierte zur äußeren Welt der Menschen und Aktivitäten. Introvertierte beschäftigen sich mit der Deutung, die sie den Ereignissen in ihrer Umwelt geben; Extravertierte tauchen direkt in die Ereignisse ein. Introvertierte regenerieren
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