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B00B5B7E02 EBOK

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Titel: B00B5B7E02 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cain
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der Verhandlungsführung beigebracht. Natürlich haben wir die Grundlagen besprochen: wie man sich auf eine Verhandlung vorbereitet, wann man das erste Angebot macht und wie man vorgeht, wenn der Gesprächspartner unnachgiebig ist. Aber ich habe den Klienten auch geholfen, sich über ihre natürliche Persönlichkeit klarzuwerden und das Beste daraus zu machen.
    Meine allererste Klientin war eine junge Frau namens Laura. Sie war Rechtsanwältin an der Wall Street, dabei aber eine schüchterne Tagträumerin, die das Rampenlicht scheute und eine Abneigung gegen Aggression hatte. Sie hatte es irgendwie geschafft, die Feuerprobe an der Harvard Law School heil zu überstehen, an der die Seminare in riesigen arenaartigen Hörsälen stattfanden. Einmal war sie dermaßen nervös, dass sie sich auf dem Weg zu einem Seminar übergeben musste. Jetzt in der Praxis war sie sich nicht sicher, ob sie ihre Klienten so energisch vertreten konnte, wie diese es erwarteten.
    In den ersten drei Jahren ihrer Anstellung hatte Laura so untergeordnete Aufgaben, dass sie sich mit dieser Frage nie eingehender zu beschäftigen brauchte. Doch eines Tages fuhr ihr Vorgesetzter in Urlaub und übertrug ihr die Verantwortung für eine wichtige Verhandlung. Bei dem Klienten handelte es sich um einen südamerikanischen Industriebetrieb, der mit einem großen Bankdarlehen in Zahlungsverzug geraten war und hoffte, neue Konditionen aushandeln zu können. Auf der anderen Seite des Verhandlungstischs saßen die Vertreter des Bankenkonsortiums, das den gefährdeten Kredit vergeben hatte.
    Laura hätte sich am liebsten unter dem besagten Tisch verkrochen, aber sie hatte gelernt, solchen Anwandlungen zu widerstehen. So nahm sie folgsam, aber nervös ihren Platz als Verhandlungsführerin ein, flankiert von ihren Klienten, dem Chefsyndikus auf der einen und der Leiterin der Finanzabteilung auf der anderen Seite. Es waren zufällig Lauras Lieblingsklienten: liebenswürdige Menschen der leisen Töne, die sich völlig von den Weltbeherrschertypen unterschieden, die ihre Firma gewöhnlich vertrat. Laura hatte den Chefsyndikus einmal zu einem Baseballspiel der Yankees und die Leiterin der Finanzabteilung beim Kauf einer Handtasche für ihre Schwester begleitet. Doch jetzt schienen diese netten Ausflüge, die genau die Art von Begegnungen waren, an denen Laura Freude hatte, Lichtjahre entfernt. Den Südamerikanern saßen neun verdrossene Investmentbanker in maßgeschneiderten Anzügen und teuren Schuhen gegenüber, begleitet von ihrer Anwältin, einer selbstbewussten Frau mit rotem Gesicht, kantigem Kinn und energischen Manieren. Die Anwältin der Banker – die eindeutig nicht zu den Schüchternen gehörte – setzte gleich zu einer beeindruckenden Rede an, in der sie erklärte, wie glücklich Lauras Klienten sich schätzen könnten, die Konditionen der Bank anzunehmen, es sei ein sehr großzügiges Angebot.
    Alle warteten darauf, dass Laura antwortete, aber ihr fiel keine Entgegnung ein. Sie saß einfach da und blinzelte. Alle Blicke ruhten auf ihr. Ihre Klienten rutschten betreten auf ihren Stühlen hin und her. Lauras Gedanken drehten sich im Kreis, ein Phänomen, das sie schon kannte. Ich bin für so etwas zu still , sagte die Stimme in ihrem Innern, zu bescheiden, zu nachdenklich . Sie stellte sich jemanden vor, der besser dazu geeignet wäre, die Lage zu retten: jemanden Forsches, Glattes, der auf den Tisch hauen konnte. In der Schule hätte man von so jemandem – anders als von Laura – gesagt, er oder sie sei kontaktfreudig . Das war das höchste Lob, das ihre Mitschüler in der siebten Klasse zu vergeben hatten, höher sogar als hübsch für Mädchen oder sportlich für Jungen. Laura gelobte sich, nur diesen Tag noch irgendwie zu überstehen. Morgen würde sie sich nach einer anderen Arbeit umsehen.
    Dann fiel ihr ein, was ich ihr immer wieder gesagt hatte: Sie war eine Introvertierte, und als solche besaß sie einzigartige Verhandlungsfähigkeiten – die vielleicht weniger sichtbar, aber nicht minder wichtig waren. Vermutlich hatte sie sich besser vorbereitet als alle anderen. Sie pflegte sich ruhig, aber bestimmt auszudrücken und sagte selten etwas, ohne es sich vorher genau überlegt zu haben. Aufgrund ihres sanften Umgangstons konnte sie einen festen, sogar offensiven Standpunkt beziehen und dabei auf andere vollkommen vernünftig wirken. Und sie konnte Fragen stellen, viele Fragen, und zuhören, wenn man ihr antwortete, was das A und O einer

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