Bahnen ziehen (German Edition)
Boxershorts haben ein kleines eingesticktes Polo-Logo am Bein. Das Pferd und die schlichten Gewebefarben erkenne ich sofort. Es ist das Pferd von den Hemden meiner Mannschafts- und Klassenkameraden in der sechsten,siebten und achten Klasse. Hemden, die meine besten Freundinnen und ihre Brüder trugen, verranzten und verloren.
»Du weißt gar nicht, wie viel dieses kleine Pferd mir früher bedeutet hat«, sage ich zu James, während ich die Fäden nachzeichne, »wie viele Stunden und Wochen und Monate ich von diesem Pferd geträumt habe und wünschte, ich könnte auch eines haben.«
»Im Ernst?«
Ich erzähle James, dass meine Eltern nicht einsahen, wie man für ein Kleidungsstück mehr als zehn Dollar ausgeben konnte. Wie etwas, das vierzig Dollar kostete, 1986 für sie schlichtweg ein Skandal war. Wie ich sparte und sparte, das Geld vom Zeitungsaustragen, den täglichen Dollar, den ich fürs Spülmaschine-Ein-und-Ausladen und Staubsaugen auf der Treppe bekam. Wie ich eines Freitagabends bei meiner besten Freundin Danielle übernachtete. Wie ihre Mutter uns am Samstag an der Yorkdale Mall absetzte und ich eine Stunde brauchte, bis ich mir ein kariertes Buttondownhemd ausgesucht hatte, ein Jungenhemd in XL . Dass ich das Hemd immer noch habe, weil ich mich nicht davon trennen kann. Wie verblüfft meine Eltern von meiner ersten rebellischen Handlung waren.
»Willst du es mal sehen?«
Ich gehe zum Schrank und komme mit dem Hemd zurück, das schlaff an einem Kleiderbügel hängt. Es ist eine Kakophonie in Pastell. Jede Farbe der Welt scheint zu der dünnen Baumwolle verwebt worden zu sein: ein verwirrendes, postkoloniales Madras-Gemisch.
»Das soll Polo sein?«, fragt James skeptisch. »Das ist doch nicht von Ralph Lauren.«
Ein leichter Anflug von Panik. Dann finde ich das Pferd. »Siehst du?«
Auf den hellblauen, grünen und blasslila Karos ist das blassblaue gestickte Pferd kaum zu erkennen.
»Man kann es gar nicht sehen!« James lacht. »Das sieht dir ähnlich, dir das einzige Hemd auszusuchen, auf dem man es nicht sieht.«
Ich streiche über die glatten Fäden des winzigen Pferds und erkläre James, als ich es kaufte, fand ich, dass es das schönste Hemd im ganzen Laden war und dass die Farben zu allem passten. Dass mich die Unsichtbarkeit des Pferds störte, aber dass ich es trotzdem nahm. Wenn ich es trug, malte ich es mit einem blauen Kuli dunkler.
»Sieh dir die Farben an. Popper-Spei. Sowas von nicht ich.«
Ich ziehe das Hemd an; es passt mir immer noch.
James legt den Kopf schräg. »Es ist nicht so, dass es dir nicht steht ...«
Meine Mannschaftskameraden kommen zurück, schieben sich mit Pappbechern und Papiertüten beladen durch den Gang und bringen kalte Parkplatzluft herein. Essensgerüche verteilen sich im Bus. Mary S. bietet mir ein Stück Kartoffelpuffer an. Nachdem wir durchgezählt haben, gibt der Bus ein Stöhnen von sich und fährt wieder los. Ich drehe mich um, lege mich mit der Schläfe auf die Armlehne und sehe zu, wie die Leselampen angehen. Ich höre, wie Reißverschlüsse geöffnet werden und jemand langgezogen rülpst. Im Augenwinkel sehe ich, wie Turnschuhe abgestreift und Füße in weißen Sportsocken in den Gang gestreckt werden, weich und gebogen wie Hockeyschläger.
Ich drehe mich auf den Rücken und sehe zum Fenster hinaus. Es rahmt eine stoische nordische Landschaft: Der Schnee leuchtet blau vor den langen, dunklen walartigen Hügeln des präkambrischen Kanadischen Schilds. Die hohen Kiefern vor dem tiefblauen Himmel sind von einem tiefen, lebendigen Schwarz, und die Wipfel schlagen aus wie ein überdimensionales Elektrokardiogramm.
Ich wache auf, als der Bus auf einen Hotelparkplätz fährt. Vor dem Fenster: ein dünner grauer Morgen. Der Fahrer zieht seinen Parka an, schlingt sich den Schal zweimal um den Hals und steigt aus. Er öffnet den Kofferraum und fängt an, Gepäck auf den Bürgersteig auszuladen. Es sind hauptsächlich Matchbeutel. Daran hängen Schwimmbretter und Pullbuoys, auf die mit Marker Nachnamen geschrieben sind: Fedoruk , Creelman , Lang . Ein paar Gepäckstücke sehen aus wie Flitterwochenkoffer: himmelblaues Plastik, blaugrünes Schottenkaro, ein paar hellbeige mit großen goldenen Schnallen und Aufklebern aus Cancún. Ich sehe zu, wie der Busfahrer den kleinen schwarzen Koffer meines Vaters mit dem kaputten vorderen Reißverschluss herausholt.
In unserem Zimmer lässt Andrea die Taschen fallen und wirft sich in Anorak und Stiefeln theatralisch
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