Evil
VORWORT
von Stephen King
In Wirklichkeit gibt es überhaupt keinen Jack Ketchum. Es handelt sich um ein Pseudonym für einen Mann namens Dallas Mayr. Natürlich würde ich so etwas nie verraten, wenn es ein streng gehütetes Geheimnis wäre. Aber so ist es nicht. Bei allen Romanen Ketchums (sieben oder acht sind in den USA erschienen) ist der Name Dallas Mayr auf der Copyright-Seite vermerkt, und wenn er Autogramme gibt, kann es durchaus sein, dass er mit »Dallas« unterschreibt. (Im Seite-2-Text dieser Ausgabe wird er allerdings bestimmt als Jack Ketchum vorgestellt.) Mir kam »Jack Ketchum« ohnehin nie wie ein ernst gemeinter Nom de Plume vor, eher schon wie ein Nom de Guerre. Und ein sehr passender. Schließlich war Jack Ketch über Generationen der Spitzname britischer Henker. Auch in den Romanen seines amerikanischen Namensvetters überlebt eigentlich niemand: Immer klappt die Falltür auf, immer zieht sich die Schlinge zusammen, und auch die Unschuldigen müssen baumeln.
Nach einem alten Sprichwort sind im Leben nur zwei Dinge sicher: der Tod und die Steuern. Dem kann ich noch eine dritte Gewissheit hinzufügen: Disney Studios wird nie einen Roman von Jack Ketchum verfilmen. In Ketchums Welt sind die Zwerge Kannibalen, den Wölfen geht nie der Atem zum Schnaufen und Keuchen aus, und die Prinzessin landet zuletzt an einen Balken gefesselt in einem Atombunker, wo ihr eine Wahnsinnige mit einem Bügeleisen die Klitoris wegsengt.
Ich habe schon einmal einige Sätze über Ketchum geschrieben und dabei festgestellt, dass er für Leser des Genres zu einer Kultfigur und für Autoren von Horrorgeschichten zu einem Helden geworden ist. Im Grunde kommt er einer amerikanischen Antwort auf Clive Barker sehr nahe, allerdings eher im Hinblick auf die Sensibilität als auf den Stoff seiner Romane, da sich Ketchum kaum je mit übernatürlichen Erscheinungen befasst. Das spielt jedoch keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sich kein Schriftsteller, der ihn gelesen hat, seinem Einfluss entziehen kann, und dass ihn kein Leser, der seinem Werk zufällig begegnet, so schnell wieder vergessen wird. Er ist zu einem Archetyp geworden. Das gilt schon seit seinem ersten Roman Off Season (eine Art literarische Fassung von Die Nacht der lebenden Toten) und auf jeden Fall für Evil, das wohl als Ketchums definitives Werk angesehen werden kann.
Der Romancier, mit dem er für meine Begriffe die größte Ähnlichkeit hat, ist der sagenumwobene Krimiautor Jim Thompson aus den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren. Ketchums gesamtes Œuvre ist wie das von Thompson als Taschenbuch erschienen (zumindest in seiner Heimat; in England sind ein oder zwei gebundene Ausgaben von ihm veröffentlicht worden), er ist nie auch nur in die Nähe der Bestsellerlisten gekommen, er wird nie außerhalb von Genre-Zeitschriften wie Cemetery Dance und Fangoria rezensiert (wo er nur selten wirklich verstanden wird), und er ist für das allgemeine Lesepublikum praktisch ein Unbekannter. Doch wie Thompson ist er ein äußerst interessanter Autor, grimmig und manchmal sogar brillant, ausgestattet mit großem Talent und einer verzweifelten Weltsicht. Sein Werk besitzt eine lebendige Intensität, der das Schaffen mancher seiner weitaus bekannteren Kollegen nicht das Wasser reichen kann – ich denke da an so unterschiedliche Romanciers wie William Kennedy, E. L. Doctorow und Norman Mailer. Von den heute arbeitenden amerikanischen Romanciers bin ich mir eigentlich nur bei einem sicher, dass er bessere und wichtigere Geschichten schreibt als Ketchum: Cormac McCarthy. Das mag hoch gegriffen erscheinen als Lob für einen obskuren Taschenbuchautor, aber es ist keine Übertreibung. Ob es einem nun passt oder nicht (und vielen, die den folgenden Roman lesen, wird es nicht passen), es ist die Wahrheit. Jack Ketchum ist ein ernst zu nehmender Autor. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass auch Cormac McCarthy völlig unbekannt und ständig pleite war, bis er All die schönen Pferde veröffentlichte, einen Western ohne große Ähnlichkeit mit seinen anderen Büchern.
Aber im Gegensatz zu McCarthy hat Ketchum kein Interesse an einer dichten, lyrischen Sprache. Er schreibt eine direkte amerikanische Prosa, in der gelegentlich ein spitzer, halb hysterischer Humor aufblitzt – zum Beispiel wenn Eddie, der verrückte Junge aus Evil, »mit nacktem Oberkörper und einer lebenden schwarzen Schlange zwischen den Zähnen« daherkommt. Kennzeichnend für Ketchums Werk ist
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