Bahnen ziehen (German Edition)
Schönheit inne.
Ein paar meiner Mannschaftskameraden springen die Busstufen hinunter und hüpfen in der eisigen Luft auf der Stelle, dann ziehen sie die Hände in die Ärmel und laufen zum Restaurant. Ich bleibe im Bus und sehe ihnen hinterher, den Kopf an die kalte Scheibe gedrückt. Wegen des Windes ziehen sie die Schultern ein und die Jacken enger um sich. Ich erkenne sie an Körperbau und Gang, obwohl auf die identischen Anoraks auch ihre Vornamen gestickt sind: Brad, Karen, Andrew, Stephanie . Ein Schwimmer, Duncan, trägt statt des Anoraks einen großen Schaffellmantel. Er ist von seinem Vater, und in den Achseln löst er sich auf.
Ich lehne mich zurück und betrachte mein Spiegelbild, das sich scharf im dunklen Fenster abzeichnet, dann das gelbe Schild des Restaurants und wieder mein Spiegelbild. Ich sehe aus wie ein Junge; meine Haare sind trocken und aufgeplustert, die Augen stehen etwas zu nah beieinander. Meiner Uhr nach sind wir seit zweieinhalb Stunden unterwegs. Halbzeit.
Ich klettere vom Sitz und hole meine Tasche aus der Ablage. In der Außentasche stecken sechs Oh-Henry!-Schokoladenriegel. Ich nehme einen heraus, setze mich wieder und esse ihn, während ich das Muster des Bezugs an der Stuhllehne vor mir anstarre. Mein Blick ist eingefroren wie der eines Zombies. Ich denke beim Kauen vage an Schnörkel und Tupfen.
Meine Mutter hat die Schokoladenriegel in der Dixie Value Mall bei Hy & Zel’s gekauft. Dort werden sie am Eingang des Ladens in Drahtkörben angeboten – neben Shampoo, rosa Rasierern und Lakritze, jeweils drei zum Preis von neunundneunzig Cent. In der Dixie Value Mall sehe ich eine andere Seite meine Mutter. Ihr stöbernder, kalkulierender Blick hat die Schärfe eines Lasers, die ich sonst nicht von ihr kenne. Sie liebt schöne Kleider und hat ein Auge für Mode. Wir haben Fotos von ihr aus den frühen 1960ern, auf denen sie auf den Philippinen in weißen asymmetrischen Roben modelt.
Manchmal kauft sie sich Zeitschriften, Vogue oder Elle , deren Cover Großaufnahmen schöner Frauen mit pink leuchtenden Lippen und glänzenden Ponys zeigen. (Das einzige Heft, das sie abonniert hat, ist Chatelaine , eine kanadische Frauenzeitschrift, in der es eher um Salate geht und wie man Schnitt- und Schürfwunden versorgt.) Im Auto hat sie mir einmal erzählt, dass sie sich früher gewünscht habe, ihre Nase wäre spitzer, weißer und weniger breit, und dass sie sich als Mädchen eine Wäscheklammer auf die Nase setzte, wenn sie ins Bett ging. Mein Vater sagt immer, ihre Nase sei ihm mit als Erstes an ihr aufgefallen und dass er ihre Nase liebe.
Wenn meine Mutter sich in einem Geschäft ein Oberteil oder ein Kleid vor dem Spiegel anhält, schiebt sie den Unterkiefer ein wenig vor und funkelt ihr Spiegelbild durch zusammengekniffene Lider an. Ich hasse dieses Gesicht, lasse mich aber auf die gleiche Weise von Kleidern verführen wie sie – die Version meiner selbst, die ich gern wäre, blinzelt mich an, wenn ich vor einem Spiegel posiere.
Als Dreizehnjährige habe ich genaue Vorstellungen von meiner Garderobe, die ich aus Fernsehserien, Musikvideos und den Illustrationen auf den Einbänden von Jugendbüchern beziehe. Ich lege Wert auf kleinste Details: Jogginghosen müssen grau sein, die Baumwolle muss eine bestimmte Faserstärke und Dicke haben, Schuhe müssen über dem Spann passen, damit die Schnürung gleichmäßig ist. Unter einem roten Pullover kann ich nur ein weißes Baumwollhemd tragen. Weiße Rollkragenpullover sehen am besten unter V -Ausschnitten aus, und in Hosen sollte der Hintern dreieckig sein. Wenn ich einem Trend folge (Plastikarmbänder, Neon-Lycra), werde ich nervös. Mein neongelbes Sweatshirt lockt Moskitos und Wespen an. In der siebten Klasse habe ich ein unglückliches Jahr damit verbracht, mit den falschen Zutaten wie ein Popper aussehen zu wollen (billige Baumwollhemden, die Farben zu schwer, zu grell; Kunstleder-Pennyloafer; Zopfpullover aus Acryl). Fotos aus dieser Zeit zeigen ein knabenhaftes Mädchen, traurig und steif.
Mein Vater protestiert, wenn meine Mutter sich etwas zum Anziehen kauft. Begreift sie nicht, dass wir es uns nicht leisten können? Wir können es uns einfach nicht leisten. Ihr Schweigen hängt im Haus wie der Geruch von verbranntem Toast.
Eines Abends kommt James, mein Mann, in hellblauen Oxford-Boxershorts und einem T-Shirt ins Bett, das ich aus einem Haufen abgelegter Kleider gefischt habe, die ein Mitarbeiter loswerden wollte. Die
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