Ballnacht in Colston Hall
musste. Durch den Türspalt drang ein schmaler Lichtstreifen, und nun waren auch Männerstimmen zu vernehmen. Reglos lauschte Ralph auf die Unterhaltung, die ziemlich missvergnügt klang.
“Ihr habt Euch ja sehr viel Zeit genommen.”
“Nun, ich bin es nicht gewohnt, zu einer so unchristlichen Zeit aus dem Bett geholt zu werden, sofern es nicht um die Letzte Ölung geht. Aber soweit ich Euern Boten verstanden habe, beabsichtigt in diesem Hause niemand, das Zeitliche zu segnen …”
“Nein, nein, ich habe Euch zur Erfüllung einer weitaus erfreulicheren Aufgabe rufen lassen. Ihr sollt eine Eheschließung vornehmen.”
“Um fünf Uhr des Morgens? Habt Ihr Euern Verstand nicht mehr beisammen, Sir Arthur?”
Ralph stieß geräuschlos den Atem aus. Die heimliche Trauung hatte also noch nicht stattgefunden! Offensichtlich hatte es dem Pastor nicht gefallen, in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geholt zu werden, und er hatte sich dementsprechend Zeit genommen. Der Himmel sei gelobt über alle Maßen!
“Ganz im Gegenteil. Ich habe meine Gründe dafür.”
“Nun, dann bin ich äußerst interessiert daran, diese zu hören.”
“Ich wage es allerdings kaum, sie Euch mitzuteilen. Doch ich weiß ja, dass ich auf Eure Diskretion zählen kann. Die fragliche junge Dame hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich zu später Stunde ganz allein zu besuchen. Ein ungemein törichtes Unterfangen, gewiss, aber andererseits auch wieder verständlich, meint Ihr nicht auch? Ihre Mama wollte sie nämlich für ein paar Wochen nach London schicken, doch es sagte ihr gar nicht zu, dass die Hochzeit so weit hinausgeschoben werden sollte. Um nun ihren Ruf nicht zu beschädigen, kam ich auf den Gedanken, Euch holen zu lassen …”
“Gut, gut, in der Tat.” Der Ton des Geistlichen verriet, dass er Sir Arthurs Erzählung keinen Glauben schenkte, zugleich aber nicht geneigt war, noch weiter über diesen Umstand zu diskutieren. “Und wo ist die junge Dame jetzt?”
Bei diesen Worten hielt Ralph den Atem an. Demzufolge befand sich Lydia nicht in diesem Zimmer. Aber wo mochte sie dann sein?
“Sie ist mit meiner Schwester in das obere Stockwerk gegangen, um sich dem Anlass entsprechend anzukleiden, denn sie sah ziemlich … unordentlich aus, wenn Ihr versteht, was ich meine. Ich werde sie aber sofort rufen lassen.”
Ralph hatte gerade noch Zeit, in einem Nebenraum zu verschwinden, bevor Sir Arthur höchstselbst auf den Korridor trat und laut nach Daniel rief. Sofort erklangen Schritte, und der junge Diener kam atemlos von seinem Posten am Haupteingang herbeigeeilt. “Lauf und sage Mrs Sutton, sie soll Miss Fostyn herunterbringen”, befahl der Hausherr.
Durch die spaltbreit geöffnete Tür hatte Ralph den Vorgang beobachtet. Nun überlegte er hastig, wie er weiter vorgehen sollte. Konnte er Lydia, während sie auf dem Korridor an ihm vorbeiging, packen und in das Zimmer zerren, bevor er sich Sir Arthur vornahm? Wie viel Personen waren dann noch in dem Wohnzimmer außer dem Pastor und Sir Arthur? Auf alle Fälle Mrs Sutton und der junge Daniel, und das waren mehr, als ein einziger Mann bewältigen konnte. Wo nur Freddie geblieben war? Er hätte doch längst zurück sein müssen. Ob es wohl richtiger wäre, noch zu warten? Sollte er zulassen, dass Lydia in dieses Zimmer ging und die Hochzeitszeremonie ihren Anfang nahm?
Noch während diese Gedanken durch seinen Kopf kreisten, kam Daniel Hals über Kopf angestürzt und schrie schon von Weitem: “Sir Arthur! Sir Arthur! Miss Fostyn ist verschwunden, und Mrs Sutton liegt mit einem blutenden Kopf bewusstlos am Boden.”
Mitten in dem Tumult, der nun ausbrach, näherten sich von der Frontseite des Hauses her Freddie und Robert Dent in Begleitung einiger unbekannter, äußerst stämmiger Männer, die sofort einen undurchdringbaren Kreis um Sir Arthur, den Comte und den lauthals protestierenden Daniel bildeten, während der Geistliche fassungslos auf den unerklärlichen Vorgang starrte.
“Im Namen des Königs! Ihr seid verhaftet.” Robert Dent legte dem totenbleich gewordenen Hausherrn die Hand auf die Schulter und befahl dann den Männern, die Gefangenen zu fesseln.
“Lydia ist verschwunden”, flüsterte Ralph seinem wiedergefundenen Freund Freddie zu. “Ich mache mich auf, sie zu suchen. Ich muss sie unbedingt finden.”
Hastig vergewisserte er sich, dass Robert Dent und die Leute vom Geheimdienst auch ohne seine Hilfe in der Lage waren, den Abtransport der Gefangenen in das
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