Ballnacht in Colston Hall
Londoner Staatsgefängnis sicher durchzuführen, und verließ dann mit eiligen Schritten das Haus durch den Haupteingang. Sein einziger Gedanke war, die Frau zu finden, die er liebte und die er nie wieder aus den Augen lassen würde – sofern sie ihn haben wollte. Wenn sich Lydia auch nie gewünscht hatte, die Frau jenes mordlustigen Verräters zu werden, hieß das ja noch lange nicht, dass sie stattdessen die Werbung des Earl of Blackwater akzeptieren würde.
Die noch jungen Bäume und der als offene Parklandschaft gestaltete Garten lagen verlassen im rosigen Licht des heraufdämmernden neuen Tages. Ralph hastete zur Rückseite des Hauses. Von hier führte ein Pfad zu der alten römischen Landstraße, dann am Rande des Forstes entlang, vorbei an Mistress Greys kleinem Haus zu dem Park von Colston Hall und dann weiter bis zum Witwensitz. Ob es Lydia wohl gelungen war, trotz aller Unruhe durch die Ankunft der Männer vom Geheimdienst und der wahrscheinlich immer noch umherstreifenden Schmuggler diesen ganzen langen Weg sicher zurückzulegen? Es hätte großer Wachsamkeit und Schlauheit bedurft.
Oh, er musste unbedingt und auf der Stelle wissen, ob sie wirklich unbeschadet nach Hause gekommen war. Der Gedanke, auch nur eine Stunde vergehen zu lassen, ohne mit ihr gesprochen zu haben, war ihm unerträglich, und so beschleunigte er seine Schritte noch mehr. Als er an Mistress Greys Häuschen vorbeilief, wurde plötzlich die Tür geöffnet, und die alte Frau erschien auf der Schwelle. Sie schien sich in aller Hast angekleidet zu haben, denn das Mieder war verkehrt zugeknöpft, und die Haube saß schief auf ihrem grauen Scheitel.
“Mylord!”, rief sie halblaut. “Wenn Ihr Miss Fostyn sucht, sie ist hier bei mir.”
Ralph blieb ruckartig stehen und wandte sich um. “Bei Euch?”
“Ja, ja, kommt nur herein.”
Mistress Grey führte ihren Gast in das winzige Wohnzimmer. “Sie ist oben und schläft. Als sie zu mir gelaufen kam, war sie völlig erschöpft und schrecklich aufgeregt und rief nur immer, der ganze Wald sei voller Männer, die jemanden ermorden wollten. Es dauerte eine Zeit, bis ich die Geschichte aus ihr herausbekam. Dann aber erzählte Lydia sie bis in alle Einzelheiten. Das kostete sie jedoch ihre letzte Kraft, und sie war nun so ermattet, dass ich sie ohne Mühe dazu bringen konnte, sich bei mir auszuruhen. Ich versicherte ihr, dass Ihr kein solcher Narr wäret, der sich einfach ermorden lässt, und versprach ihr zudem, wach zu bleiben und Euch gegebenenfalls zu warnen.”
“Ich danke Euch, Mistress Grey. Ich danke Euch von ganzem Herzen”, erwiderte Ralph. “Sicherlich wird es Euch freuen zu hören, dass die Verbrecher samt und sonders festgenommen worden sind.”
Die Alte sah ihn trübsinnig an. “Auch Master Frederick?”
“Nein, nein, Freddie nicht. Ich glaube, er ist jetzt bereits auf dem Heimweg.”
“Oh, welche Freude!” Mistress Grey klatschte entzückt in die Hände. “Nun ist es wohl an der Zeit, dass Lydia auch nach Hause geht. Würdet Ihr sie vielleicht begleiten? Sie ist nämlich überzeugt, dass hinter jedem Baum ein Meuchelmörder steht.”
“Aber selbstverständlich. Ich war ihretwegen schon fast krank vor Angst und Sorge.”
“Das habe ich mir gedacht”, erwiderte die Alte mit einem verständnisvollen Lächeln. “Sie ist oben, in meinem Schlafzimmer.” Sie wies mit dem Kopf auf die steile Holztreppe, die in das Dachgeschoss führte.
Ralph nahm zwei Stufen auf einmal und klopfte dann oben an die einzige Zimmertür. Als keine Antwort kam, ergriff ihn wieder quälende Furcht. War Lydia etwa erneut heimlich davongelaufen? Entschlossen drückte er die Klinke nieder und öffnete die Tür.
Lydia saß aufrecht im Bett, die Knie bis ans Kinn emporgezogen, und hatte die Bettdecke um ihre Schultern gelegt, sodass von ihr selbst nichts weiter zu sehen war als ihr wachsbleiches Gesicht und die riesigen leuchtenden Augen. Die Schritte auf der Treppe und das Klopfen hatten sie aufs Äußerste erschreckt. War man ihr etwa auf die Spur gekommen? Selbst hier, wo sie sich so sicher gewähnt hatte? Hatten die Verbrecher den Mann, den sie liebte, überwältigt und kamen nun, um sie zu Sir Arthur zurückzubringen? Oh, sie würde kämpfen! Mit Krallen und Zähnen würde sie sich wehren. Wie gebannt starrte sie auf die Tür, die langsam aufging.
“Lydia! Lydia, meine Liebe!” Mit zwei Schritten war Ralph neben dem Bett und nahm sie in die Arme. “Ich habe vor Angst und Sorge um
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