Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Eulalia ein wenig Muße hatte, kam sie zu mir und half mir, den ganzen Wirrwarr irgendwie zu ordnen. Auf diesen Seiten voller Verrat und Bekehrung wimmelte es von Vätern und Söhnen, reinen und heiligen Müttern, Prophezeiungen und Propheten, die der Himmel oder die Herrlichkeit geschickt hatte, von Säuglingen, die das Universum erlösen würden, von unheilvollen und abstoßenden Wesen in Tiergestalt, von ätherischen Geschöpfen, die gemäß bestimmter Rassemerkmale gestaltet waren und das Gute vertraten, und von Helden, welche sich schrecklichen Schicksalsprüfungen zu unterziehen hatten. Immer schimmerte die Vorstellung durch, das irdische Dasein sei eine Art Durchgangsstation, deshalb solle man sich in sein Schicksal fügen und die Regeln der Gemeinschaft befolgen, denn als Belohnung warte das Paradies, und dort war alles, was man im leiblichen Leben entbehrt hatte, im Überfluss vorhanden.
Am Donnerstagmittag trat Eulalia während einer ihrer Pausen an meinen Tisch und fragte, ob ich eigentlich nur Messbücher lese oder ab und zu auch etwas esse. Ich lud sie ein, in der vor kurzem in der Nähe eröffneten Casa Leopoldo mit mir zu speisen. Während wir einen köstlichen geschmorten Ochsenschwanz genossen, erzählte sie mir, sie arbeite seit zwei Jahren auf ihrem Posten und weitere zwei an einem Roman, der nicht vorangehen wolle und dessen Hauptschauplatz die Bibliothek in der Calle del Carmen sei, wo sich eine Reihe mysteriöser Verbrechen ereigneten.
»Ich möchte etwas Ähnliches schreiben wie vor Jahren Ignatius B. Samson in seinen Romanen«, erklärte sie. »Sagt Ihnen das was?«
»Vage.«
Eulalia fand einfach nicht den richtigen Einstieg für ihren Roman, und ich riet ihr, dem Ganzen einen leicht unheimlichen Ton zu verleihen und ihre Geschichte rund um ein geheimes Buch aufzubauen, das von einem gequälten Geist heimgesucht wurde, mit einer Nebenhandlung übernatürlichen Anstrichs.
»Das würde jedenfalls Ignatius B. Samson an ihrer Stelle tun«, sagte ich.
»Und was tun Sie, dass Sie so viel über Engel und Teufel lesen? Sagen Sie nicht, Sie seien ein ehemaliger Priesterseminarist, den die Reue plagt.«
»Ich versuche, die Gemeinsamkeiten in den Ursprüngen verschiedener Religionen und Mythen zu erkennen«, erklärte ich.
»Und was haben Sie bisher gelernt?«
»Fast nichts. Aber ich will Sie nicht mit dem Miserere langweilen.«
»Sie langweilen mich nicht. Erzählen Sie.«
»Nun, am interessantesten schien mir bisher, dass die meisten dieser Glaubenslehren ihren Anfang mit einem Geschehnis oder einer Person von einer gewissen historischen Wahrscheinlichkeit nehmen. Sie entwickeln sich dann schnell zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der Gruppe, die sie annimmt, abhängt und von ihnen geformt wird. Sind Sie noch wach?«
Eulalia nickte.
»Die Mythologie, die sich ausgehend von diesen Doktrinen entwickelt, von ihrer Liturgie bis zu ihren Regeln und Tabus, geht zu einem guten Teil auf die sich herausbildende Bürokratie zurück und nicht auf das vermeintlich übernatürliche Geschehnis, das an ihrem Anfang gestanden haben soll. Die meisten einfachen, erbaulichen Anekdoten, eine Mischung aus gesundem Menschenverstand und Folklore, und die gesamte kriegerische Aufladung, die sie erfahren können, verdanken sich, sofern sie sich nicht selbst widerlegen, der nachträglichen Interpretation dieser Anfänge durch ihre Verwalter. Der Aspekt der Verwaltung und Rangordnung scheint in der Entwicklung von Mythologien eine entscheidende Rolle zu spielen. Im Prinzip wird die Wahrheit allen Menschen offenbart, aber schnell treten Individuen auf den Plan, die sich die Befugnis und die Pflicht anmaßen, diese Wahrheit im Namen des Gemeinwohls zu bewahren, auszulegen und gegebenenfalls zu verändern. Zu diesem Behuf begründen sie eine mächtige, bisweilen diktatorische Organisation. Dieses Phänomen, das, wie uns die Biologie lehrt, typisch ist für jedes im Gruppenverband lebende Tier, macht die Lehre bald zu einem Werkzeug der Kontrolle und des politischen Kampfes. Teilungen, Kriege, Spaltungen sind die Folge. Über kurz oder lang wird das Wort Fleisch, und das Fleisch blutet.«
Ich hatte den Eindruck, schon ganz wie Corelli zu klingen, und seufzte. Eulalia lächelte schwach und schaute mich etwas reserviert an.
»Und das suchen Sie? Blut?«
»Der Nächste im Blut, der Erste am Gut.«
»Da wäre ich nicht so sicher.«
»Ich ahne, dass
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