Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
aber ich hörte sie schluchzen. Als ich versuchte, die Tür zu öffnen, merkte ich, dass sie abgeschlossen hatte.
Ich ging ins Arbeitszimmer hinauf, das nach Isabellas Prozedur den Duft frischer Blumen verströmte und aussah wie die Kajüte eines Luxusdampfers. Wieder hatte sie sämtliche Bücher geordnet, Staub gewischt und alles auf Hochglanz gebracht, sodass der Raum nicht wiederzuerkennen war. Die alte Underwood glich einer Skulptur, und die Buchstaben auf den Tasten waren wieder zu lesen. Ein Stapel säuberlich geordnete Blätter ruhte auf dem Schreibtisch mit den Resümees mehrerer Schultexte und Katechismen nebst der Tageskorrespondenz. Auf einer Untertasse lagen zwei herrlich duftende Zigarren. Macanudos, eine der karibischen Wonnen, die ein Vertreter der Tabakgesellschaft Isabellas Vater heimlich zusteckte. Ich zündete mir eine an. In ihrem lauwarmen Rauch mischten sich sämtliche Düfte und Gifte, die sich ein Mann nur wünschen konnte, um in Frieden zu sterben. Ich setzte mich an den Schreibtisch und überflog die Post des Tages. Ich ignorierte alles außer einem Brief aus cremefarbenem Pergament in der Schönschrift, die ich überall sofort erkannt hätte. Mein neuer Verleger und Mäzen Andreas Corelli bestellte mich am Sonntag gegen Abend auf den Turm der neuen Seilbahn, die den Barceloneser Hafen überquerte.
Der San-Sebastián-Turm ragte rund achtzig Meter in die Höhe, ein Gewirr von Kabeln und Stahl, das einen vom bloßen Hinsehen schon schwindeln machte. Die Seilbahn war im selben Jahr anlässlich der Weltausstellung eröffnet worden, die in der Stadt alles auf den Kopf gestellt und aus ihr eine Stadt der Wunder gemacht hatte. Das Seil führte sie quer übers Hafenbecken zu einem großen, dem Eiffelturm nacheifernden Aussichtsturm auf halbem Weg, von dem aus die Kabinen über die zweite Teilstrecke zum Montjuic-Hügel schwebten, wo das Herzstück der Ausstellung angesiedelt war. Das Wunder der Technik verhieß Ausblicke auf die Stadt, wie sie bisher nur Zeppelinen, Vögeln mit einer gewissen Flügelweite und Hagelkörnern vergönnt gewesen waren. Meiner Ansicht nach waren der Mensch und die Möwe nicht dafür geschaffen, denselben Luftraum zu teilen, und sowie ich den Fuß in den Turmaufzug setzte, schrumpfte mir der Magen zur Murmel. Die Auffahrt erschien mir endlos und das Gerüttel dieser Blechkapsel wie eine Übung in Sachen Übelkeit.
Oben sah ich Corelli durch eines der auf das Hafenbecken und die ganze Stadt hinausgehenden Fenster schauen, in die Aquarelle von Segeln und Masten vertieft. Er trug einen weißen Seidenanzug und ließ zwischen den Fingern ein Stück Zucker hin- und herwandern, um es dann mit der Gier eines Wolfes zu verschlingen. Ich räusperte mich, worauf sich der Patron umdrehte und zufrieden lächelte.
»Eine wundervolle Aussicht, finden Sie nicht?«, fragte er.
Ich nickte und war vermutlich bleich wie ein Stück Pergament.
»Macht die Höhe Eindruck auf Sie?«
»Ich bin ein Geschöpf des Bodens«, antwortete ich in gebührendem Abstand von den Fenstern.
»Ich habe mir erlaubt, Hin- und Rückfahrkarten zu kaufen«, informierte er mich.
»Sehr aufmerksam.«
Ich folgte ihm zu dem Zugangssteg, von dem aus die Kabinen in großer Höhe über eine mir unglaublich lang erscheinende Strecke schaukelten.
»Wie haben Sie die Woche verbracht, Martín?«
»Mit Lesen.«
Er schaute mich kurz an.
»Ihrem gelangweilten Ausdruck entnehme ich, dass es nicht Alexandre Dumas war.«
»Eher eine Auswahl staubtrockener Akademiker und ihrer Zementprosa.«
»Ah, Intellektuelle. Und Sie wollten, dass ich einen einstelle! Warum wohl drücken die Leute, je weniger sie zu sagen haben, dieses wenige auf eine umso pompösere und pedantischere Art aus?«, fragte Corelli. »Um die Welt hinters Licht zu führen oder sich selbst?«
»Möglicherweise beides.«
Er händigte mir die Fahrkarten aus und ließ mich vorgehen. Nachdem ich sie dem Schaffner gegeben hatte, stieg ich ohne Begeisterung ein und hielt mich in der Mitte, so weit von den Fenstern entfernt wie möglich. Corelli strahlte wie ein begeistertes Kind.
»Vielleicht besteht Ihr Problem zum Teil darin, dass Sie die Kommentatoren und nicht die Kommentierten gelesen haben. Ein verbreiteter, aber fataler Fehler, wenn man etwas Nützliches lernen will«, sagte er.
Die Kabinentüren schlossen sich, und mit einem heftigen Ruck schwangen wir frei. Ich klammerte mich an eine Metallstange und atmete tief.
»Ich ahne, dass Gelehrte
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