Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
und Theoretiker nicht die Heiligen sind, denen Ihre Hingabe gilt«, sagte ich.
»Meine Hingabe gilt überhaupt keinem Heiligen, lieber Martín, und am wenigsten denen, die sich selbst oder einander heiligsprechen. Die Theorie ist die Praxis der geistig Armen. Meine Empfehlung lautet, dass Sie die Enzyklopädisten und ihre Abhandlungen vergessen und zu den Quellen vorstoßen. Sagen Sie, haben Sie die Bibel gelesen?«
Ich zögerte einen Augenblick. Die Kabine schwebte ins Leere hinaus. Ich schaute auf den Fußboden.
»Hier und da einzelne Abschnitte vermutlich«, murmelte ich.
»Vermutlich. Wie fast alle. Ein schwerer Fehler. Jedermann müsste die Bibel lesen. Und wieder lesen. Ob gläubig oder nicht, spielt keine Rolle. Ich lese sie mindestens einmal im Jahr. Sie ist mein Lieblingsbuch.«
»Und sind Sie ein Gläubiger oder ein Skeptiker?«
»Ich bin ein Profi. Und Sie auch. Was wir glauben oder nicht, ist irrelevant für das Gelingen unserer Arbeit. Glauben oder nicht glauben ist eine kleinmütige Frage. Man weiß, oder man weiß nicht, Punktum.«
»Dann muss ich gestehen, dass ich nichts weiß.«
»Folgen Sie diesem Weg, und Sie werden in die Fußstapfen des großen Philosophen treten. Und dazwischen lesen Sie die Bibel von vorn bis hinten. Sie ist eine der größten je erzählten Geschichten. Machen Sie nicht den Fehler, das Wort Gottes mit der Messbuchindustrie zu verwechseln, die davon lebt.«
Je länger ich in Gesellschaft des Verlegers war, desto weniger meinte ich ihn zu verstehen.
»Ich glaube, ich habe den Faden verloren. Wir sprechen von Legenden und Fabeln, und jetzt sagen Sie mir, ich soll an die Bibel glauben, als wäre sie das Wort Gottes?«
Ein Schatten der Ungeduld und Gereiztheit legte sich auf seinen Blick.
»Ich spreche im übertragenen Sinn. Gott ist kein Schwätzer. Das Wort ist Menschenwährung.«
Dann lächelte er mir zu, wie man einem Kind, das die elementarsten Dinge nicht versteht, zulächelt, um es nicht ohrfeigen zu müssen. Als ich ihn so anschaute, wurde mir bewusst, dass ich nicht erkennen konnte, wann er es ernst meinte und wann ironisch – so wenig, wie ich den Zweck dieses ausgefallenen Unterfangens erraten konnte, für das er mir das Gehalt eines regierenden Monarchen zahlte. Inzwischen schaukelte die Kabine im Wind wie ein Apfel an einem sturmgeschüttelten Baum. Noch nie hatte ich so sehr an Isaac Newton gedacht.
»Sie sind ein Waschlappen, Martín. Diese Anlage ist absolut sicher.«
»Das glaube ich dann, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.«
Wir näherten uns der Mittelstation der Strecke, dem San-Jaime-Turm, der sich auf einem Pier in der Nähe des großen Zollpalastes erhob.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier auszusteigen?«, fragte ich.
Mit einem Schulterzucken stimmte Corelli widerwillig zu. Ich atmete erst wieder ruhig, als der Turmaufzug unten ankam. Auf dem Pier fanden wir eine Bank mit Blick auf den Hafen und den Montjuic und sahen in der Höhe die Seilbahn schweben – ich erleichtert, Corelli wehmütig.
»Erzählen Sie mir von Ihren ersten Eindrücken und auf welche Gedanken Sie diese Tage des Studiums und der intensiven Lektüre gebracht haben.«
Resümierend erzählte ich ihm, was ich glaubte, gelernt – oder verlernt – zu haben. Er hörte aufmerksam zu, nickte und gestikulierte dabei. Am Ende meines sachkundigen Berichts über Mythen und Glaubenslehren der Menschen war Corelli voll des Lobs.
»Ich glaube, Sie haben das alles ausgezeichnet zusammengefasst. Zwar haben Sie nicht die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen gefunden, aber Sie haben begriffen, dass das Einzige, was an diesem ganzen Heuhaufen interessieren kann, eine verdammte Stecknadel ist und alles andere nur Eselsfutter. Und wenn wir schon bei Grautieren sind: Interessieren Sie sich für Fabeln?«
»Als Kind wollte ich zwei Monate lang Äsop sein.«
»Wir alle geben im Laufe des Lebens große Erwartungen auf.«
»Was wollten Sie als Kind sein, Señor Corelli?«
»Gott.«
Sein Schakalslächeln löschte meines aus.
»Martín, die Fabeln sind möglicherweise eines der interessantesten literarischen Verfahren, die je erfunden wurden. Wissen Sie, was sie uns lehren?«
»Moralische Lektionen?«
»Nein. Sie lehren uns, dass die Menschen Ideen und Vorstellungen durch Erzählungen, durch Geschichten verstehen lernen und aufnehmen, nicht durch Schulmeisterlektionen und theoretische Abhandlungen. Das lehrt uns auch jeder der großen Glaubenstexte. Sie
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