Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
erzählen alle von Personen, die sich dem Leben stellen und Hindernisse überwinden müssen, Figuren, die eine Reise unternehmen und durch Abenteuer und Offenbarungen innerlich reifen. Alle heiligen Bücher sind große Geschichten, die die grundlegenden Fragen der menschlichen Natur berühren und sie in einen moralischen Kontext und einen Rahmen bestimmter metaphysischer Glaubenssätze stellen. Ich wollte, dass Sie zuerst eine elende Woche mit dem Lesen von Abhandlungen, Reden, Meinungen und Kommentaren verbringen, um dann selbst zu merken, dass es von ihnen nichts zu lernen gibt, weil sie tatsächlich zumeist nichts anderes sind als in der Regel der fehlgeschlagene Ausdruck guten oder schlechten Willens, und dass Sie dann selbst etwas zu lernen versuchen. Schluss mit dem Dozieren ex cathedra. Von heute an sollen Sie die Märchen der Brüder Grimm, die Tragödien des Aischylos, das Ramayana oder die keltischen Legenden lesen. Ganz nach Belieben. Sie sollen ihren Gehalt herausdestillieren und analysieren, wie diese Texte funktionieren und warum sie unsere Gefühle ansprechen. Sie sollen die Grammatik, nicht die Moral lernen. Und in zwei, drei Wochen sollen Sie mir bereits etwas Eigenes bringen, den Anfang einer Geschichte. Sie sollen mich glauben machen.«
»Ich dachte, wir seien Profis und dürften nicht die Sünde begehen, an etwas zu glauben.«
Corelli lächelte mit entblößten Zähnen.
»Man kann nur einen Sünder bekehren, nie einen Heiligen.«
13
Die Tage vergingen mit Lektüre und Geplänkel. Da ich es seit Jahren gewohnt war, allein und in der methodischen, stark unterschätzten Anarchie des wahren Junggesellen zu leben, untergrub die dauernde Anwesenheit einer Frau, auch wenn sie nur ein flatterhafter, ungezogener Backfisch war, meinen Alltag auf subtile, aber systematische Art. Ich glaubte an das geordnete Chaos, Isabella nicht; ich glaubte, die Dinge fänden im Durcheinander einer Wohnung ihren Platz von selbst, Isabella nicht; ich glaubte an Einsamkeit und Stille, Isabella nicht.
In nur zwei Tagen musste ich feststellen, dass ich in meiner eigenen Wohnung nichts mehr wiederfand. Wenn ich einen Brieföffner oder ein Glas oder ein Paar Schuhe suchte, musste ich Isabella fragen, wo sie in einem Moment der Eingebung diese Dinge versteckt hatte.
»Ich verstecke nichts. Ich stelle die Dinge an ihren Ort, das ist was anderes.«
Kein Tag verging, an dem ich sie nicht ein halbes Dutzend Mal am liebsten erdrosselt hätte. Wenn ich mich in den Frieden und die Stille des Arbeitszimmers zurückzog, um nachzudenken, erschien nach wenigen Minuten Isabella mit einer Tasse Tee oder mit Gebäck. Danach begann sie im Raum herumzugehen, schaute aus dem Fenster, räumte den Schreibtisch auf und fragte schließlich, was ich denn da oben treibe, so still und geheimnisvoll. Ich entdeckte, dass siebzehnjährige Mädchen ein so mächtiges Sprechvermögen haben, dass ihr Hirn sie alle zwanzig Sekunden davon Gebrauch machen lässt. Am dritten Tag beschloss ich, ihr einen Freund zu suchen, tunlichst einen tauben.
»Isabella, wie ist es möglich, dass ein so gut aussehendes junges Mädchen wie du keine Freier hat?«
»Wer sagt denn, ich hätte keine?«
»Gibt es keinen Jungen, der dir gefällt?«
»Die Jungen in meinem Alter sind langweilig. Sie haben nichts zu sagen, und die Hälfte sind absolute Hohlköpfe.«
Ich wollte sagen, dass sich das mit dem Alter nicht bessert, aber dann fand ich, ich müsse ihr die Illusionen lassen.
»In welchem Alter magst du sie denn?« »Alter. So wie Sie.« »Du findest mich älter?«
»Na ja, ein junger Spund sind Sie ja nicht mehr unbedingt.«
Ich nahm das als Hänselei statt als Kränkung und beschloss, mich mit ein wenig Sarkasmus freizustrampeln.
»Die gute Nachricht ist, dass junge Mädchen ältere Männer, und die schlechte, dass ältere Männer, vor allem die Sabbergreise, junge Mädchen mögen.«
»Ist mir bekannt. Ich bin ja nicht blöd.«
Sie schaute mich an, als heckte sie etwas aus, und lächelte maliziös. Jetzt kommt’s, dachte ich.
»Mögen Sie auch junge Mädchen?«
Ich hatte die Antwort auf den Lippen, noch ehe sie die Frage formulierte, und sagte in gelassenem Geographielehrerton:
»Ich mochte sie, als ich in deinem Alter war. Grundsätzlich mag ich junge Mädchen in meinem Alter.«
»In Ihrem Alter sind es keine jungen Mädchen mehr, sondern Fräuleins oder, wenn Sie mich fragen, Frauen.«
»Ende der Debatte. Hast du unten nichts zu tun?«
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