Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
außer mir und Zehntausenden von Büchern niemand im Laden war.
An jenem Vormittag brachte Radio Barcelona den heimlichen Mitschnitt eines Fans von dem großartigen Weihnachtskonzert, das der Trompeter Louis Armstrong und seine Band drei Jahre zuvor im Hotel Windsor Palace in der Avenida Diagonal gegeben hatten. Nach den Werbepausen mühte sich der Sprecher immer damit ab, diese Klänge als Jatz zu etikettieren, und machte darauf aufmerksam, dass einige dieser Synkopen nicht unbedingt das Richtige für den spanischen Hörer seien, der ja doch eher auf die vorherrschenden Couplet, Bolero und den eben aufkommenden Yéyé abgerichtet war.
Fermín sagte immer, wäre Isaac Albéniz als Schwarzer geboren worden, so wäre der Jazz genau wie die Dosenkekse in Camprodón erfunden worden, und zusammen mit den spitzen Büstenhaltern, wie sie seine vergötterte Kim Novak in einigen der Filme trug, die wir in den Vormittagsvorstellungen des Kinos Fémina sahen, sei dieser Sound eine der wenigen echten Errungenschaften der Menschheit im bisherigen 20. Jahrhundert. Darüber mochte ich nicht mit ihm streiten. In die Magie dieser Musik und den Geruch der Bücher gehüllt, ließ ich den Rest des Vormittags verstreichen und genoss in stiller Zufriedenheit meine einfache, aber gewissenhaft ausgeführte Arbeit.
Fermín hatte den Vormittag freigenommen, um, wie er sagte, letzte Vorbereitungen für seine auf Anfang Februar angesetzte Hochzeit mit der Bernarda zu treffen. Als er das Thema knapp zwei Wochen zuvor zum ersten Mal zur Sprache gebracht hatte, hatten wir alle gesagt, er überstürze das Ganze und Eile führe nirgends hin. Mein Vater hatte ihn zu überzeugen versucht, die Trauung wenigstens zwei oder drei Monate hinauszuschieben, mit dem Argument, Hochzeiten seien etwas für den Sommer und schönes Wetter, aber Fermín hatte an dem Datum festgehalten, denn ein Typ wie er, abgehärtet im rau-trockenen Klima der extremadurischen Hügel, gerate über die Maßen ins Schwitzen, sobald der Sommer die mediterrane, seiner Meinung nach semitropische Küste erreiche, und es mache sich schlecht, seine Verehelichung mit tortengroßen Flecken unter den Armen zu feiern.
Allmählich dachte ich, es müsse etwas Merkwürdiges im Gange sein, dass Fermín Romero de Torres, lebende Standarte des bürgerlichen Widerstands gegen die heilige Mutter Kirche, die Banken und die guten Sitten in diesem von Messe und Wochenschau geprägten Fünfziger-Jahre-Spanien, es mit der kirchlichen Trauung so eilig hatte. In seinem Voreheeifer hatte er sogar mit dem neuen Pfarrer der Santa-Ana-Kirche, Don Jacobo, Freundschaft geschlossen, einem Priester aus Burgos mit entspannter Ideologie und den Manieren eines pensionierten Boxers, den er mit seiner maßlosen Dominoleidenschaft angesteckt hatte. Sonntags nach der Messe lieferte er sich mit ihm im Restaurant El Almirall historische Partien, und der Geistliche lachte herzlich, als ihn mein Freund zwischen zwei Gläsern Montserrat-Likör fragte, ob er eigentlich die Gewissheit habe, dass Nonnen Schenkel hätten, und wenn ja, ob sie so zart zu beknabbern seien, wie er es sich seit seiner Jugend vorstelle.
»Sie bringen es noch fertig, exkommuniziert zu werden«, tadelte ihn mein Vater. »Nonnen sind weder zum Anschauen noch zum Berühren da.«
»Aber der Pfarrer steht ja fast noch mehr auf Frauen als ich«, wehrte sich Fermín. »Wäre da nicht die Uniform …«
Während ich mich an diese Diskussion erinnerte und zu Meister Armstrongs Trompete vor mich hin summte, hörte ich das träge Klingeln der Glocke über der Eingangstür. Ich schaute auf in der Erwartung, meinen Vater von seiner Geheimmission zurückkommen zu sehen oder Fermín, der den Nachmittagsdienst übernähme.
»Guten Tag«, hörte ich von der Schwelle her eine tiefe, schrundige Stimme.
3
Im Gegenlicht glich seine Silhouette einem vom Wind gepeitschten Baumstamm. Er trug einen altmodisch geschnittenen dunklen Anzug und gab, wie er sich so auf einen Stock stützte, eine finstere Gestalt ab. Unübersehbar hinkend, tat er einen Schritt vorwärts. Im hellen Licht der Lampe über dem Ladentisch zeigte sich ein von der Zeit zerfurchtes Gesicht. Der Besucher musterte mich in aller Ruhe; sein geduldig berechnender Blick erinnerte an einen Raubvogel.
»Sind Sie Señor Sempere?«
»Ich bin Daniel. Señor Sempere ist mein Vater, aber er ist im Moment nicht da. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Der Besucher überhörte meine Frage und begann
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