Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
Erster Teil
Ein Weihnachtsmärchen
1
Barcelona, Dezember 1957
In jenem Jahr brachen zur Weihnachtszeit alle Tage bleiern und raureifgetüncht an. Bläuliches Halbdunkel tönte die Stadt, und die bis zu den Ohren eingemummten Menschen zeichneten mit ihrem Atem Dampfspuren in die Kälte. In diesen Tagen blieben nur wenige vor dem Schaufenster von Sempere & Söhne stehen, um sich in seine Auslagen zu vertiefen, und noch weniger rafften sich dazu auf, einzutreten und nach dem verlorenen Buch zu fragen, das ein Leben lang auf sie gewartet hatte und dessen Verkauf, von seinem poetischen Rang einmal abgesehen, den misslichen Finanzen der Buchhandlung ein wenig hätte aufhelfen können.
»Ich glaube, heute ist es so weit. Heute wird sich unser Schicksal wenden«, verkündete ich, beflügelt vom ersten Kaffee des Tages – reiner Optimismus in flüssiger Form.
Mein Vater, der seit acht Uhr früh mit Bleistift und Radiergummi der Buchhaltung beizukommen versuchte, schaute vom Ladentisch auf und beobachtete die vorbeirauschende Masse der Kunden.
»Dein Wort in Gottes Ohr, Daniel – wenn es so weitergeht und wir das Weihnachtsgeschäft verpassen, können wir im Januar nicht einmal die Stromrechnung bezahlen. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.«
»Gestern hatte Fermín eine Idee«, sagte ich. »Er findet es einen meisterhaften Plan, um den Laden vor dem drohenden Bankrott zu retten.«
»Um Himmels willen.«
Ich zitierte wörtlich:
»›Vielleicht käme, wenn ich das Schaufenster in Unterhosen dekorierte, die eine oder andere literaturbeflissene, nach starken Emotionen lechzende Frau herein und würde kräftig einkaufen, denn laut den Sachverständigen liegt die Zukunft der Literatur bei den Frauen, und mein Gott, ich möchte das Weibsbild sehen, das dem wilden Sog dieses knorrigen Körpers widerstehen kann.‹«
Hinter mir hörte ich den Bleistift meines Vaters zu Boden fallen, und ich wandte mich um.
»Fermín dixit«, fügte ich hinzu.
Ich hatte gehofft, dieser Fermín-Einfall würde meinen Vater zum Lachen bringen, aber er verharrte in seinem Schweigen, und ich schaute ihn verstohlen an. Sempere senior schien diese Albernheit nicht nur überhaupt nicht lustig zu finden, sondern hatte auch ein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt, als überlegte er, ob er das ernstlich in Betracht ziehen sollte.
»Sieh mal einer an, da hat Fermín vielleicht den Vogel abgeschossen«, murmelte er.
Ich starrte ihn an. Möglicherweise hatte die geschäftliche Dürre, die uns in den vorangegangenen Wochen gegeißelt hatte, mittlerweile den Verstand meines Vaters angegriffen.
»Willst du etwa sagen, du erlaubst ihm, in Unterhosen im Laden rumzuspazieren?«
»Nein, nein, darum geht es nicht. Das Schaufenster! Du hast mich auf eine Idee gebracht … Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Weihnachtsgeschäft zu retten.«
Er verschwand im hinteren Raum und kam nach kurzer Zeit in seiner Winteruniform zurück: demselben Mantel, Schal und Hut, die ich seit Kindesbeinen an ihm kannte. Bea sagte immer, vermutlich habe er sich seit 1942 keine Kleider mehr gekauft, und alle Indizien wiesen darauf hin, dass meine Frau recht hatte. Während er in die Handschuhe schlüpfte, lächelte er vage, und in seinen Augen erschien das fast kindliche Leuchten, das nur große Vorhaben auszulösen vermochten.
»Ich lass dich eine Weile allein«, verkündete er. »Ich muss etwas erledigen.«
»Darf ich fragen, wohin du gehst?«
Er blinzelte mir zu.
»Das ist eine Überraschung. Du wirst schon sehen.«
Ich folgte ihm zur Tür und sah ihn entschlossenen Schrittes auf die Puerta del Ángel zugehen, eine Gestalt unter vielen in der grauen Flut der Passanten, die sich durch einen weiteren langen Winter aus Schatten und Asche pflügten.
2
Ich nutzte das Alleinsein, um ein wenig Radiomusik zu genießen, während ich nach meinem Gutdünken die Buchreihen in den Regalen neu ordnete. Mein Vater war der Ansicht, das Radio laufen zu lassen, wenn Kunden im Laden waren, gehöre sich nicht, und stellte ich es in Gegenwart Fermíns an, so begann dieser sogleich zu jeder Melodie irgendwelche andalusischen Bittgesänge zu trällern oder, noch schlimmer, »sinnliche Rhythmen aus der Karibik«, wie er sie nannte, zu tanzen, was mich in wenigen Minuten auf hundert brachte. Aufgrund dieser praktischen Schwierigkeiten war ich zum Schluss gekommen, dass ich den Genuss der Ätherwellen auf die seltenen Momente beschränken musste, in denen
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