Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
Fremde den Seitenstreifen und ging auf dem Mittelstück Richtung Hafen weiter. Wie immer war die Promenade weihnachtlich geschmückt, und in vielen Schaufenstern prangten Lichter, Sterne und Engel, Verkünder einer Prosperität, mit der es seine Richtigkeit haben musste, wenn das Radio es so sagte.
In jenen Jahren hatte Weihnachten noch einen Anstrich von Magie und Geheimnis. Das pulverisierte Winterlicht, der Blick und die Sehnsucht der in Schatten und Stille lebenden Menschen verliehen dieser Szenerie einen leichten Hauch von Wahrheit, an die man noch glauben konnte, wenigstens die Kinder und diejenigen, die zu vergessen gelernt hatten.
Vielleicht hob sich aus diesem Grund die so unweihnachtliche, so aus dem Rahmen fallende Gestalt, die ich verfolgte, noch deutlicher von dieser ganzen Traumwelt ab. Der Mann hinkte langsam weiter und blieb mehrmals vor einem der Vogel- oder Blumenkioske stehen, um Wellensittiche oder Rosen zu bestaunen, als hätte er noch nie welche gesehen. Zweimal trat er an einen der Zeitungskioske, die die Ramblas sprenkelten, studierte die Titelseiten von Zeitungen und Zeitschriften und brachte die Postkartenkarussells zum Rotieren. Er wirkte wie ein Kind oder ein Tourist, der erstmals auf den Ramblas spazieren geht, wobei Kinder und Touristen in solchen Momenten voller Naivität einen Fuß vor den anderen setzen, während jenes Individuum weder Naivität noch den Segen des Jesuskinds ausstrahlte, an dessen Bildnis er jetzt auf der Höhe der Bethlehem-Kirche vorbeikam.
Nun blieb er wieder stehen, ganz offensichtlich fasziniert von einem blassrosa gefiederten Kakadu, der ihn aus dem Käfig eines der Tierkioske bei der Einmündung der Calle Puertaferrisa anblinzelte. Der Fremde trat so nahe an den Käfig heran wie in der Buchhandlung an die Vitrine und flüsterte dem Vogel etwas zu. Dieser, ein großköpfiges Exemplar mit der Flügelweite eines luxusfedrigen Kapauns, überlebte den Schwefelatem des Fremden und konzentrierte sich voller Interesse auf seine Worte. Als gälte es Zweifel auszuräumen, nickte er mehrmals und sträubte sichtlich erregt einen rosa Federkamm.
Offensichtlich zufrieden mit seiner ornithologischen Zwiesprache, setzte der Fremde nach wenigen Minuten seinen Weg fort. Als ich keine dreißig Sekunden später am Vogelkiosk vorbeikam, herrschte dort ein aufgeregtes Hin und Her. Der verwirrte Verkäufer deckte den Kakadukäfig eilig mit einer schwarzen Haube zu, um den Vogel davon abzuhalten, in perfekter Aussprache den Vers Franco, du elender Wicht, warum steht er dir denn nicht? zu rezitieren, den er zweifellos soeben gelernt hatte. Wenigstens verriet der Fremde einen gewissen Sinn für Humor und riskante Überzeugungen, was in jener Zeit ebenso selten war wie Rocksäume oberhalb des Knies.
Abgelenkt von diesem Zwischenfall, glaubte ich ihn schon aus den Augen verloren zu haben, doch bald entdeckte ich seine finstere Gestalt vor dem Schaufenster des Juweliers Bagués. Verstohlen näherte ich mich einem der Schreiberhäuschen, die den Eingang zum Virreina-Palast säumten, und beobachtete ihn aufmerksam. Seine Augen glänzten wie Rubine, und das Schauspiel von Gold und Edelsteinen hinter der kugelsicheren Scheibe schien eine größere Lüsternheit in ihm geweckt zu haben, als es eine Riege Revuegirls aus dem Criolla in dessen Glanzjahren geschafft hätte.
»Ein Liebesbrief, eine Eingabe, eine Bitte an die Exzellenz Ihrer Wahl, ein spontanes Bei-uns-alles-gut für die Verwandten im Dorf, junger Mann?«
Der Schreiber des Häuschens, das ich als Versteck auserkoren hatte, streckte den Kopf heraus wie ein Beichtvater und schaute mich an, begierig darauf, seine Dienste an den Mann zu bringen. Das Schild über dem Fenster besagte:
OSWALDO DARÍO DE MORTENSSEN
Literat und Denker
Liebesbriefe, Gesuche, Testamente, Gedichte, Schmähschriften, Glückwünsche, Bitten, Todesanzeigen, Hymnen, Diplomarbeiten, Bittschriften, Eingaben und verschiedenartigste Dichtungen in sämtlichen Stilen und Metren
Zehn Céntimos pro Satz (Reime extra)
Preisnachlass für Witwen, Versehrte und Minderjährige
»Na, junger Mann? Ein Liebesbrief von der Art, bei der die heiratsfähigen jungen Damen mit den Ausflüssen des Verlangens den Unterrock nässen? Ich mache Ihnen einen Sonderpreis, weil Sie es sind.«
Ich hielt ihm den Ehering unter die Nase. Unerschrocken zuckte der Schreiber Oswaldo die Schultern.
»Wir leben in einer modernen Zeit«, sagte er. »Wenn Sie wüssten, in welchen Scharen
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