Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

die
Welt der Halbgötter. Sieh dich vor! Sie sind eifersüchtig, neidisch und rachsüchtig. Sammle dich, so gut es dir gelingt, um die Pforte der Gebärmutter zu verschließen, und geh davon.
    Stehst du plötzlich mitten in einer Menschenmenge oder in einer Stadt, während dein Körper blau wird, hast du die Möglichkeit, unter den Menschen wiedergeboren zu werden, in einer von Ichbezogenheit und Verlangen beherrschten Welt.
    Fühlst du dich hingezogen zu Grotten, Erdlöchern oder Nestern, derweil dein Körper sich grün färbt, so schickst du dich an, ein Tier zu werden. Meide diese Welt, wenn du dazu fähig bist, denn sie kennt kein Erbarmen. Dort regiert die Unwissenheit und das Gesetz des Stärksten.
    Gewahrst du Baumstümpfe oder tiefe Höhlen und hast Lust, dich darin zu verstecken, während dein Körper gelb wird, näherst du dich der Welt der hungrigen Geister. Entziehe dich auch diesem Reich, denn diejenigen, die es bewohnen, leiden unter ihrer Begierde und ihrer ewigen Unzufriedenheit.
    Gerätst du schließlich in den Sog der Hölle, wird dein Wesen eine gräuliche Färbung annehmen wie der Rauch, und du wirst finstere und rötlich flimmernde Orte, metallische Bauten oder Brunnen vor Augen haben. Entfliehe dieser Welt um jeden Preis, denn der
Hass und der Zorn, die dort dominieren, verursachen unerträgliche Qualen …«
    Anne erhebt sich und geht auf den alten Mann zu.
    »Wisse, dass nur eine der sechs Welten dir gestatten wird, weitere Fortschritte zu machen, nämlich die der Menschen. Ihre Farbe ist das Blau. Erinnere dich daran und sei vorsichtig, denn die Macht deines Karmas drängt dich vielleicht in Richtung eines anderen Schicksals.«
    Anne kauert sich vor Tsepel.
    »Entschuldigen Sie, aber Sie müssen sich jetzt um Evan kümmern.«
    »Nun werde ich dir sagen, wie du das Geschlecht deiner nächsten Inkarnation auswählst.«
    »Ich bitte Sie. Haben Sie Dank für Ihre Ratschläge, aber Evan geht es sehr schlecht. Er braucht Ihre Hilfe.«
    »Wie ich dir bereits erzählt habe, wirst du, wenn du deinen Vater und deine Mutter dabei beobachtest, wie sie dich gerade empfangen, Eifersucht auf einen Elternteil verspüren und eine sehr starke sexuelle Anziehung gegenüber dem anderen. Du wirst das Geschlecht desjenigen erhalten, auf den du eifersüchtig bist.«
    Anne will ihm erneut das Wort abschneiden, aber er redet sofort weiter. Sie hält inne und hört ihm zu, neugierig, seine nächsten Offenbarungen zu erfahren.

    »Meine letzten Ausführungen betreffen deinen Geburtsort. Du kannst auf den vier 13 Kontinenten wiedergeboren werden. Wenn dies in Asien geschehen soll, werden schöne, gastliche Häuser vor dir auftauchen. Zögere nicht, dort einzutreten. Es handelt sich um den günstigsten Kontinent, denn auf ihm werden die Lehren Buddhas verbreitet. Die drei anderen Kontinente werden dir in Gestalt von Seen erscheinen, an deren Ufern Tiere ihren Durst löschen. Wenn es Gänse oder Gänseriche sind, befindest du dich vor den Toren Ozeaniens. Siehst du Hengste oder Stuten, bist du auf dem Weg nach Europa oder Afrika. Eine Viehherde hingegen zeigt dir an, dass du in Amerika wiedergeboren werden kannst.«
    Anne lauscht ihm, völlig in Bann geschlagen. Sie schüttelt den Kopf, um sich wieder zu fassen.
    Evan, jemand muss sich um Evan kümmern.
    »Nun steht es dir frei, eine Wahl zu treffen.«
    Sie legt Tsepel eine Hand auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er reibt sich die Lippen. Anne zieht ihre Hand zurück.

    »Ich habe Sie gehört und danke Ihnen. Holen Sie jetzt Hilfe für Evan. Er ist der Notfall. Wenn Sie ihm nicht beistehen, wird er sterben.«
    Tsepel hebt den Kopf. Evan schläft noch immer neben Annes Leichnam. Er hustet nicht mehr, zittert jedoch, und seine Atmung ist kurz und unregelmäßig. Von einer plötzlichen Hast ergriffen, steckt Tsepel die Gebetsschnur ein, nimmt seine Tasche, öffnet sie und kramt darin. Er holt eine Feldflasche hervor, einige Stücke getrockneten Fleischs, ein zusammengefaltetes Taschentuch und eine Streichholzschachtel - Dinge, die er sorgsam vor sich anordnet. Er entfaltet das Taschentuch und wickelt das Fleisch ein, steht dann auf, hängt sich die Tasche um, sammelt die Gegenstände auf dem Boden ein und nähert sich Evan. Er kniet sich vor ihn, platziert die Feldflasche, das Taschentuch und die Streichhölzer vor seinem Gesicht, ergreift die bei seinen Füßen zusammengerollte Jacke, schüttelt sie aus und bedeckt damit den Oberkörper, zieht die Gebetsschnur