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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Melville
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nicht selten als Schmerz. Und wenn man schließlich erkennt, daß solches Mitleid keine wirksame Hilfe bringen kann, befiehlt der gesunde Menschenverstand der Seele, sich davon zu befreien. Was ich an diesem Morgen sah, überzeugte mich, daß der Schreiber das Opfer einer angeborenen und unheilbaren Krankheit war. Seinem Körper hätte ich Almosen geben können, aber sein Körper schmerzte ihn ja nicht; seine Seele war es, die litt, und seine Seele konnte ich nicht erreichen.
    Ich führte an diesem Morgen meine Absicht, zur Trinity Church zu gehen, nicht aus. Was ich gesehen hatte, machte mich für den Augenblick irgendwie untauglich zum Kirchenbesuch. Ich ging nach Hause und dachte nach, was ich mit Bartleby tun sollte. Schließlich faßte ich den folgenden Entschluß: Ich wollte ihm amnächsten Morgen mit ruhiger Stimme ein paar Fragen stellen, die sein früheres Leben &c. betrafen, und wenn er sich weigerte, sie offen und rückhaltlos zu beantworten (er würde wohl sagen, daß er es lieber nicht möchte), dann wollte ich ihm, außer der Summe, die ich ihm noch schuldig sein mochte, eine Zwanzigdollarnote geben und ihm erklären, seiner Dienste nicht länger zu bedürfen; daß ich mich aber freuen würde, wenn ich ihm auf irgendeine andere Weise beistehen könne, daß ich ihm, insbesondere wenn er in seinen Heimatort zurückkehren wolle, einerlei, wo der sein mochte, gerne helfen würde, die Kosten zu bestreiten. Überdies werde er, wenn er nach der Rückkehr in die Heimat irgendwann einmal Hilfe brauche, auf einen Brief bestimmt Antwort erhalten.
    Der nächste Morgen kam.
    »Bartleby«, sagte ich, indem ich ihn freundlich hinter seinem Wandschirm anrief.
    Keine Antwort.
    »Bartleby«, sagte ich in einem noch freundlicheren Tone, »kommen Sie her; ich will nichts von Ihnen verlangen, was Sie lieber nicht tun möchten – ich habe nur den Wunsch, mit Ihnen zu sprechen.«
    Daraufhin kam er lautlos zum Vorschein.
    »Wollen Sie mir sagen, Bartleby, wo Sie geboren sind?«
    »Ich möchte lieber nicht.«
    »Wollen Sie mir irgend etwas über sich erzählen?«
    »Ich möchte lieber nicht.«
    »Aber was für einen vernünftigen Grund können Siehaben, nicht mit mir zu sprechen? Ich meine es gut mit Ihnen.«
    Er sah mich nicht an, während ich sprach, sondern hielt seinen Blick unverwandt auf meine Cicero-Büste gerichtet, die sich, so wie ich damals saß, gerade hinter mir befand, etwa sechs Zoll über meinem Kopf.
    »Wie lautet Ihre Antwort, Bartleby?« sagte ich, nachdem ich eine geraume Weile auf eine Entgegnung gewartet hatte; währenddessen war sein Gesicht unbeweglich geblieben, nur der weiße, verschmälerte Mund zeigte ein kaum wahrnehmbares Zucken.
    »Im Augenblick möchte ich keine Antwort geben«, sagte er und zog sich in seine Einsiedelei zurück.
    Es war, ich gestehe es, eine Schwäche von mir, doch sein Verhalten bei diesem Anlaß reizte mich. Es schien mir nicht nur eine gewisse gelassene Verachtung darin verborgen zu liegen, sondern seine Verstocktheit kam mir in Anbetracht der unleugbar guten Behandlung und der Nachsicht, die er von mir erfahren hatte, auch undankbar vor.
    Wieder saß ich da und grübelte, was ich tun sollte. So gekränkt ich mich wegen seines Benehmens fühlte und so entschlossen ich beim Betreten meiner Kanzlei gewesen war, ihn zu entlassen, spürte ich seltsamerweise trotzdem, wie etwas Abergläubisches an mein Herz pochte und mir verbot, meine Absicht auszuführen, und mich als Schurken verurteilte, wenn ich es wagte, diesem einsamsten aller Menschen auch nur ein hartes Wort zu sagen. Schließlich zog ich vertraulich meinen Stuhl hinterseinen Wandschirm, setzte mich und sagte: »Bartleby, es macht nichts, wenn Sie Ihr früheres Leben nicht offenbaren; aber ich möchte Sie, als Freund, inständig bitten, sich, soweit wie möglich, an die Gepflogenheiten in dieser Kanzlei zu halten. Sagen Sie jetzt nur, daß Sie morgen oder übermorgen helfen wollen, Schriftstücke durchzusehen, kurzum, sagen Sie jetzt nur, daß Sie in ein paar Tagen anfangen wollen, ein bißchen vernünftig zu sein – sagen Sie nur das, Bartleby.«
    »Im Augenblick möchte ich lieber nicht ein bißchen vernünftig sein«, war seine sanft leichenhafte Antwort.
    Gerade da ging die Flügeltür auf, und Nippers trat heran. Er schien an den Folgen einer ungewöhnlich schlechten Nachtruhe zu leiden, durch eine schwerere Verdauungsstörung als üblich verursacht. Die letzten Worte Bartlebys hörte er mit.
    » Möchte lieber

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