Baudolino
Du hast eine Vorstellung, wo Lanua oder Genua liegt und wo
Mediolanum oder Mailand, wie die Teutonen oder Germanen sagen oder die Alamanoi, wie ihr Griechen sie nennt. Also, etwa auf halbem Weg zwischen diesen beiden Städten gibt es zwei Flüsse, den Tanaro und die Bormida, und dazwischen liegt eine Ebene, in der, wenn es nicht gerade so heiß ist, daß man Eier auf einem Stein braten kann, meistens Nebel herrscht, und wenn kein Nebel herrscht, dann schneit es, und wenn es nicht schneit, dann gefriert alles zu Eis, und wenn es nicht zu Eis gefriert, dann ist es trotzdem kalt. Dort bin ich geboren, in einem Landstrich, der Frascheta Marincana heißt, denn es gibt auch einen schönen Sumpf zwischen den beiden Flüssen. Es ist nicht gerade wie an den Ufern der Propontis...«
»Das denke ich mir.«
»Aber mir hat es gefallen. Es hat etwas, das einem bleibt und überallhin folgt. Ich bin viel gereist, mußt du wissen, vielleicht bis nach Groß-Indien...«
»Bist du nicht sicher?«
»Nein, ich weiß nicht genau, wie weit ich gelangt bin, sicher bis dort, wo die Menschen mit Hörnern auf dem Kopf leben und die mit dem Mund auf dem Bauch. Ich bin wochenlang durch endlose Wüsten gezogen, durch Grassteppen, die bis zum
Horizont reichten, und ich habe mich immer wie ein Gefangener gefühlt, gefesselt von etwas, das meine Vorstellungskraft übersteigt. In meiner Heimat dagegen, wenn du im Nebel durch die Wälder streifst, fühlst du dich wie im Mutterleib, du fürchtest dich vor nichts und fühlst dich frei. Und auch wenn kein Nebel herrscht - du wanderst, und wenn es dich dürstet, brichst du dir einen Eiszapfen von einem Ast, und dann hauchst du dir auf die Finger, die ganz voller geloni sind...«
»Voller was? Ist das... etwas zum Lachen?«
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»Nein, ich habe nicht gheloioi gesagt! Bei euch gibt es nicht mal ein Wort dafür, darum habe ich unseres nehmen müssen.
Geloni sind kleine Beulen, die sich wegen der großen Kälte an den Fingern bilden, vorne und an den Knöcheln. Sie jucken, und wenn man sie kratzt, tun sie weh...«
»Du sprichst darüber, als hättest du sie in guter Erinnerung ...«
»Kälte ist schön.«
»Jeder liebt seine Heimat. Sprich weiter.«
»Gut, also: Dort herrschten einst die Römer, die alten Römer aus Rom, meine ich, die Latein sprachen, nicht die Römer, die ihr jetzt zu sein behauptet - ihr, die ihr Griechisch sprecht und die wir Romäer nennen, oder auch abfällig graeculi, wenn du das despektierliche Wort verzeihst.
Später ist dann das Reich jener Römer verschwunden, und in Rom ist nur der Papst geblieben, und überall in Italien sind verschiedene Völker aufgetaucht, die verschiedene Idiome sprachen. Die Leute in der Frascheta sprechen eine gemeinsame Sprache, aber schon in Tortona sprechen sie eine andere. Als ich mit Friedrich durch Italien zog, habe ich viele sehr schöne Sprachen gehört, neben denen unsere in der Frascheta eher ein Bellen ist als eine richtige Sprache, und es schreibt auch niemand in dieser Sprache, denn schreiben tut man immer noch in Latein. Daher war ich, als ich dies hier zu schreiben begann, vielleicht der erste, der so zu schreiben versuchte, wie wir sprachen.«
»Und was hast du hier geschrieben?«
»Nun, siehst du, durch mein Leben unter gebildeten Leuten wußte ich, welches Jahr wir hatten. Ich schrieb im Dezember Anno Domini 1155. Wie alt ich damals war, wußte ich nicht, mein Vater sagte zwölf, meine Mutter meinte, ich wäre schon dreizehn, vielleicht hatten ihr die Mühen, mich in der Furcht des
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Herrn zu erziehen, die Zeit etwas länger erscheinen lassen. Als ich schrieb, ging ich bestimmt schon auf vierzehn zu. Von April bis Dezember hatte ich schreiben gelernt. Ich hatte mich mit Eifer darauf gestürzt, nachdem der Kaiser mich mitgenommen hatte, und ich übte in jeder Lage, auf freiem Feld, unter einem Zeltdach, an die Mauer eines zerstörten Hauses gelehnt.
Meistens auf kleinen Täfelchen, selten auf Pergament. Ich gewöhnte mich schon daran, wie Friedrich zu leben, der sich nie mehr als ein paar Monate am selben Ort aufhielt, und auch das immer nur im Winter - während des übrigen Jahres war er ständig unterwegs und schlief jede Nacht woanders.«
»Aber hier, was erzählst du hier?«
»Nun, zu Beginn jenes Jahres lebte ich noch bei Vater und Mutter, wir hatten ein paar Kühe und einen Garten. Ein
Einsiedler aus der Gegend hatte mich lesen gelehrt. Ich trieb mich in Wald und Sumpf umher, ich war ein phantasievoller
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