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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Junge, ich sah Einhörner, und einmal erschien mir im Nebel - so sagte ich - San Baudolino...«
    »Ich habe noch nie von diesem heiligen Manne gehört. Ist er dir wirklich erschienen?«
    »Er ist ein Heiliger aus unserer Gegend, er war Bischof von Villa del Foro. Ob ich ihn wirklich gesehen habe, ist eine andere Geschichte. Kyrios Niketas, das Problem meines Lebens ist, daß ich nie klar und deutlich getrennt habe zwischen dem, was ich wirklich sah, und dem, was ich sehen wollte...«
    »Das geht vielen so...«
    »Ja, aber mir ist es immer passiert, sobald ich behauptete, ich hätte dies oder jenes gesehen oder auch einen Brief gefunden, der dies oder jenes besagte (und den ich womöglich selber geschrieben hatte), dann kam es den anderen so vor, als hätten sie nur darauf gewartet. Und weißt du, Kyrios Niketas, wenn du
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    etwas erzählst, was du dir ausgedacht hast, und die anderen sagen in einem fort: Genauso ist es!, dann glaubst du's am Ende selber. So trieb ich mich in der Frascheta herum und sah Heilige und Einhörner im Wald, und als ich dem Kaiser begegnete, ohne zu wissen, daß er es war, und zu ihm in seiner Sprache sprach, da erzählte ich ihm, daß mir San Baudolino gesagt habe, er - der Kaiser werde die Stadt Tortona erobern.
    Ich hatte das nur so hingesagt, um ihm eine Freude zu machen, aber ihm kam es gerade recht, und er wollte, daß ich es vor allen wiederholte, besonders vor den Abgesandten aus Tortona, denn so würden sie sich davon überzeugen, daß sie auch die Heiligen gegen sich hatten, und deswegen hat er mich meinem Vater abgekauft, und der hat sofort eingewilligt, nicht so sehr wegen des bißchen Geldes, das er für mich bekam, sondern weil er dadurch einen hungrigen Esser im Hause loswurde. So hatte sich mit einem Schlag mein ganzes Leben verändert.«
    »Bist du einer von seinen Pagen geworden?«
    »Nein, sein Adoptivsohn. Zu jener Zeit hatte Friedrich noch keine Kinder, ich glaube, er mochte mich, weil ich ihm sagte, was die anderen ihm aus Respekt verschwiegen. Er behandelte mich, als ob ich sein leiblicher Sohn wäre, er lobte mich für mein Gekrakel, für meine ersten Rechenübungen an den zehn Fingern, für die Kenntnisse, die ich mir über seinen Vater aneignete und über dessen Vater...
    Manchmal vertraute er sich mir auch an, vielleicht dachte er, ich verstünde es nicht.«
    »Liebtest du diesen Vater mehr als deinen leiblichen, oder warst du fasziniert von seiner Majestät?«
    »Kyrios Niketas, bis dahin hatte ich mich noch nie gefragt, ob ich meinen Vater Gagliaudo liebte. Ich gab nur acht, daß ich nicht in Reichweite seiner Fußtritte oder seiner Stockschläge kam, und das schien mir ganz normal für einen Sohn. Daß ich
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    ihn außerdem liebte, habe ich erst bemerkt, als er starb. Vorher hatte ich meinen Vater, glaube ich, nie umarmt. Zum Weinen ging ich lieber an die Brust meiner Mutter, aber die arme Frau hatte auf so viele Tiere zu achten, daß sie nicht viel Zeit fand, mich zu trösten. Friedrich war von schöner Statur, sein Gesicht war weiß und rot und nicht so lederfarben wie das meiner Dorfgenossen, sein Haar und Bart waren feuerrot, die Hände lang, die Finger schmal, die Nägel wohlgepflegt, er war seiner selbst sicher und flößte Sicherheit ein, er war fröhlich und entschieden und flößte Fröhlichkeit und Entschiedenheit ein, er war mutig und flößte Mut ein - ich Löwchen, er Löwe. Er konnte grausam sein, aber zu denen, die er liebte, war er überaus gütig und sanft. Ich habe ihn geliebt. Er war der erste Mensch, der wirklich zuhörte, wenn ich redete.«
    »Er nahm dich als Stimme des Volkes... Ein guter Herrscher hört nicht nur auf seine Höflinge, sondern versucht zu verstehen, was seine Untertanen denken.«
    »Ja, aber ich wußte nicht mehr, wer und wo ich war. Seit meiner Begegnung mit ihm, in der Zeit von April bis Dezember, war das Heer zweimal durch Italien gezogen, einmal von der Lombardei bis nach Rom und einmal in umgekehrter Richtung, aber diesmal auf einer Schlangenlinie, zuerst von Spoleto nach Ancona, dann hinunter nach Apulien, dann wieder hinauf in die Romania und weiter nach Verona und Tridentum und Bauzano, um schließlich über die Berge zu ziehen und nach Deutschland zurückzukehren. Nachdem ich zwölf Jahre nur eben zwischen zwei Flüssen verbracht hatte, war ich auf einmal im Zentrum des Universums.«
    »So kam es dir vor.«
    »Ich weiß, Kyrios Niketas, das Zentrum des Universums seid ihr Romäer, aber die Welt ist größer

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