Baudolino
ich eine Stadt entstehen und nicht
untergehen sah.«
-185-
13. KAPITEL
BAUDOLINO SIEHT EINE NEUE
STADT ENTSTEHEN
Seit zehn Jahren lebte Baudolino nun in Paris, er hatte alles gelesen, was man lesen konnte, er hatte Griechisch gelernt von einer byzantinischen Prostituierten, er hatte Gedichte und Liebesbriefe geschrieben, die anderen zugeschrieben worden waren, er hatte praktisch ein Reich konstruiert, das inzwischen niemand besser kannte als er und seine Freunde, aber er studierte noch immer. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es ja schon eine recht beachtliche Leistung war, überhaupt in Paris zu studieren, wenn man bedachte, daß er in einem Sumpf
geboren und zwischen Kühen aufgewachsen war; dann sagte er sich, daß studieren zu gehen für arme Schlucker wie ihn ja auch leichter war als für die Söhne von Herren, die kämpfen lernen mußten, nicht lesen und schreiben... Mit einem Wort, er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut.
Eines Tages wurde ihm klar, daß er inzwischen, einen Monat mehr, einen weniger, sechsundzwanzig Jahre alt sein mußte: Da er mit dreizehn von zu Hause fortgegangen war, hatte er sich seit genau dreizehn Jahren nicht mehr dort sehen lassen.
Er verspürte ein Gefühl, das wir Heimweh nennen würden, nur daß er selbst, der es noch nie verspürt hatte, nicht wußte, was es war. Daher hielt er es für den Wunsch, seinen Adoptivvater wiederzusehen, und so beschloß er, sich nach Basel zu begeben, wo Friedrich auf der Rückkehr von einem erneuten Italienzug haltgemacht hatte.
-186-
Er hatte den Kaiser seit der Geburt von dessen erstem Sohn nicht mehr gesehen. Während er den Brief des Priesters
Johannes schrieb und immer wieder umschrieb, hatte Friedrich alles mögliche unternommen, hatte sich wie ein Flußaal von Norden nach Süden bewegt, hatte im Sattel gegessen und
geschlafen wie seine barbarischen Ahnen, und seine Residenz war immer dort gewesen, wo er sich gerade befand. Zwei
weitere Male war er nach Italien gezogen. Beim zweiten Mal hatte er auf der Rückkehr eine Schmach in Susa erlitten, wo sich die Bürger gegen ihn erhoben und ihn gezwungen hatten,
heimlich und verkleidet zu fliehen, während sie Beatrix als Geisel behielten. Später hatten sie sie zwar gehen lassen, ohne ihr ein Haar zu krümmen, aber Friedrich war übel gedemütigt worden und hatte Susa Rache geschworen. Und als er dann wieder in Deutschland war, konnte er sich beileibe nicht ausruhen, sondern mußte die deutschen Fürsten besänftigen.
So kam es, daß Baudolino den Kaiser in einer sehr trüben Stimmung vorfand. Er begriff, daß er sich einerseits immer mehr Sorgen über die Gesundheit seines ältesten Sohnes machte, der ebenfalls Friedrich hieß, und andererseits über die Entwicklung in der Lombardei.
»Zugegeben«, räumte er ein, »und das sage ich nur dir: Meine Stadtvögte und Gesandten, meine Steuereinnehmer und
Prokuratoren haben nicht nur verlangt, was mir zustand, sondern siebenmal mehr. Für jede Feuerstelle haben sie pro Jahr drei Solidi in alter Münze eingetrieben und für jede Mühle an schiffbaren Gewässern vierundzwanzig alte Denare, den
Fischern haben sie ein Drittel des Fangs weggenommen, und wenn einer kinderlos starb, haben sie das Erbe konfisziert. Ich weiß, ich hätte auf die Klagen hören sollen, die mich erreichten, aber ich hatte andere Sorgen... Und jetzt haben sich die lombardischen Gemeinden, wie es scheint, seit einigen Monaten in einer Liga organisiert, einem antikaiserlichen Städtebund,
-187-
verstehst du? Und was haben sie als erstes beschlossen? Die Mauern Mailands wieder aufzubauen!«
Daß die italienischen Städte aufsässig und rebellisch waren, war nichts Neues, aber eine Liga, das bedeutete die Errichtung einer anderen Respublica. Gewiß war nicht anzunehmen, daß diese Liga lange halten würde, wenn man bedachte, wie sehr sich die italienischen Städte untereinander haßten, aber auf jeden Fall handelte es sich um einen Schlag, einen minus gegen die Ehre des Reiches.
Wer gehörte zu dieser Liga? Gerüchten zufolge hatten sich, in einer Abtei unweit von Mailand die Vertreter von Cremona, Mantua, Bergamo, vielleicht auch Piacenza und Parma
versammelt, aber das war nicht sicher. Die Gerüchte hörten jedoch nicht auf, man sprach auch von Venedig, Verona, Padua, Vicenza, Treviso, Ferrara und Bologna. »Stell dir vor,
Bologna!« rief Friedrich wütend, während er vor Baudolino auf und ab stapfte. »Du erinnerst dich doch noch? Dank meiner
Weitere Kostenlose Bücher