Bauernjagd
… aber ich habe mich
nicht von der Stelle gerührt. Verstehst du, Bernhard? Ich habe zugelassen, dass
er in die Gülle fällt. Er ist direkt vor meinen Augen gestorben.«
Sie zog ihre Strickjacke eng um den Oberkörper.
»Ich weiß, dass es sich grausam anhört, aber ich hatte kein Mitleid
mit ihm. Im Gegenteil. Es kam mir auf einmal alles so gerecht vor. Das war ein
gutes Gefühl, trotz seines schrecklichen Todes. Es war, als hätte er für das
bezahlt, was ich seinetwegen erlitten habe. Zumindest kam es mir so vor.«
»Und das brachte dich auf die Idee weiterzumachen?«
»Ja. Zuerst wusste ich nicht, wie ich es angehen sollte. Als ich die
Stahlschrauben in den Mais hängte, hatte ich noch Angst davor, ihnen ins Gesicht
zu sehen. Ich dachte, es wäre besser, Abstand zu halten.« Sie lächelte. »Und so
war es am Ende ja auch. Als Clemens vorhin auf dem Tisch lag, direkt vor meinen
Augen, konnte ich ihn doch nicht töten.«
»Aber den anderen, denen konntest du ins Gesicht sehen?«
»Ich weiß, es ist barbarisch, was ich getan habe. Es war falsch und
ist durch nichts zu entschuldigen. Aber ich musste es einfach tun. Ich konnte
nicht anders. Nach Ewalds Tod habe ich nur noch daran denken können. Ich wollte
es ihnen heimzahlen, allen. Ich wollte dieses Gefühl wieder und immer wieder
erleben – dass sich alles fügt und Gerechtigkeit entsteht. Und es war so
einfach. Viel einfacher, als ich gedacht hatte. Sie alle haben mich nur fassungslos
angeglotzt. Und dann sind sie gestorben.«
Eine Schönwetterwolke schob sich vor die Sonne, die hellen Flecken
und die glitzernden Staubpartikel verschwanden, es wurde dunkel in der Scheune.
»Auch wenn ich mir alles selbst zuzuschreiben habe«, sagte sie, »war
doch das Gefühl, sie zu töten, unbeschreiblich. Zum ersten Mal habe ich mich
wirklich stark gefühlt.«
Auf dem Hof von Clemens Röttger warteten bereits die Streifenwagen
der Steinfurter Polizei, Beamte standen herum und unterhielten sich. Von Weitem
erkannte er Heike Holthausen, die mit Henrik Korb sprach. Vor der großen Halle
drängten sich die Gäste der Trauerfeier, neugierig verfolgten sie das
Geschehen.
»Darf ich noch einmal auf unseren Hof und mir ein paar Sachen
einpacken?«, fragte Sophia.
»Natürlich.« Er zückte sein Handy, das er vor der Scheune
abgeschaltet hatte, und stellte es wieder an. Sofort signalisierte ihm ein
Vibrieren, dass zwischenzeitlich Anrufe eingegangen waren.
»Ich sage ihnen, dass sie uns unten an der Straße einsammeln
sollen«, meinte er. »Dann bleibt es dir erspart, vor allen Leuten festgenommen
zu werden.«
Nachdem Sophia in Anwesenheit eines Streifenbeamten eine
Tasche für die Untersuchungshaft gepackt hatte, wurde sie zurück auf den Hof
geführt, wo sich inzwischen ihre Familie versammelt hatte. Hambrock nahm ihr
die Tasche ab, damit sie sich verabschieden konnte. Zuerst nahm sie ihre Enkel
in den Arm und drückte sie lange an sich. Die beiden weinten und umklammerten
sie, bis Marita vortrat und sie sanft und tröstend zurückzog. Dann verabschiedete
Sophia sich von ihren Töchtern. Erst von Marita, der ebenfalls die Tränen in
den Augen standen und die plötzlich ganz durchlässig und verwundbar wirkte. Und
schließlich von Annika, die blass und regungslos dastand. Sophia nahm ihr
Gesicht in die Hände und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
»Ich konnte dir deinen Vater nicht ersetzen«, sagte sie. »Glaub mir,
ich habe es versucht. Ich hätte alles dafür gegeben.« Da löste Annika sich aus
ihrer Starre und fiel ihrer Mutter schluchzend um den Hals. Sie sagte etwas,
das Hambrock nicht verstehen konnte, und Sophia strich ihr übers Haar, dankte
ihr mit einem warmen Lächeln, küsste sie nochmals und wandte sich schließlich
ab.
Zuletzt verabschiedete sie sich von Ada. Die beiden Frauen legten
die Stirn aneinander und hielten sich lange fest, ohne ein Wort zu sagen. Sie
standen einfach da und kosteten den wertvollen Moment der Nähe aus. Dann löste
Sophia sich auch aus dieser Umarmung, wandte sich zu Hambrock und nickte ihm
zu. Es konnte losgehen. Er nahm neben ihr auf der Rückbank Platz. Die Türen wurden
geschlossen, die Beamten stiegen ebenfalls ein und fuhren vom Hof.
Hambrock blickte sich noch einmal um. Die Horstkempers standen mit
reglosen Mienen vor dem Scheunentor. Eine Katze kam auf den Hof gelaufen und
strich ihnen um die Beine. Die Kuhherde, die auf der Wiese vor dem Schotterweg
graste, glotzte zu dem fahrenden Objekt hinüber. Einige Kühe
Weitere Kostenlose Bücher