Bauernjagd
uns.«
Erneut brach Jubel aus, und Annika erkannte, dass Marita zu ihrer
gewohnten Form zurückgefunden hatte, denn sie grinste zufrieden, und Annika
ahnte bereits, wen sie wählen würde.
»Manfred Schulze Ahlerkamp.«
Natürlich den großspurigen Schulzensohn. Manfred war ein Angeber und
Großmaul, der sich gerne in Maritas Gegenwart mit chauvinistischen Sprüchen
hervortat, nur um dann zu beobachten, wie sie in die Luft ging.
Heute war der Tag ihrer Rache.
Ein paar Nachbarn liefen los und entdeckten Manfred bei der
Fahnenschlagtruppe, die er kommandierte. Noch ehe er begriff, wie ihm geschah,
warfen sie sich auf ihn und schleppten ihn ins Festzelt, zur Verkleidungskiste
der Tanzgruppe. Sie zerrten ihm die Uniform vom Leib, stülpten ihm ein
knallrotes Abendkleid über, zwängten Perücke und Plastikdiadem auf seinen Kopf
und bearbeiteten sein Gesicht mit Rouge und Lippenstift. Da er sich aus
Leibeskräften wehrte und drei Männer ihn festhalten mussten, sah er schließlich
aus wie ein blutverschmiertes Unfallopfer. Unter Jubel und Gelächter trugen sie
ihn zum Bierwagen und setzten ihn neben Marita, seinen König, an die Theke.
Annika beobachtete das Treiben vom Würstchenstand aus.
»Es ist doch immer das Gleiche«, meinte ihre Mutter. »Marita muss
sich in den Mittelpunkt drängen. Ich wünschte, sie wäre manchmal ein bisschen
zurückhaltender.«
Doch Annika stellte fest, dass ihrer Mutter das Spektakel gar nicht
so übel gefiel, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.
»Vielleicht solltest du dich dazusetzen«, schlug sie vor.
»Schließlich bist du jetzt die Königsmutter.«
Doch ihre Mutter blickte sie nur ärgerlich an. Mit einem »Ach, du!«
wandte sie sich wieder den Würstchen zu und beachtete sie nicht mehr.
Kurz darauf ging das Schießen weiter. Annika kehrte zurück zum
Festzelt, in der Hoffnung, dass auch Clemens wiederkommen und noch ein bisschen
mit ihr plaudern würde.
Vor dem Eingang blieb sie abrupt stehen. Sie blinzelte in die
flirrende Luft. Auf dem Feldweg näherte sich Hubert Höing, der Nachbar, der
losgegangen war, um Ewald Tönnes abzuholen. Er drückte sich beim Laufen die
Hand aufs Herz und stolperte über die verdorrten Grasnarben. Schwer atmend
erreichte er schließlich den Platz. Sein Gesicht war schreckensbleich.
»Ewald«, keuchte er. »Ewald Tönnes.«
»Was ist mit Ewald Tönnes?«, fragte eine Frau.
»Er ist verunglückt … Er ist … der Bodendeckel seiner Güllegrube stand
offen. Er … er hat die Gülle ins Silo umgepumpt und wollte wohl den Abfluss
beobachten. Er ist … er muss ausgerutscht sein … Jedenfalls lag er unten in der
Grube, als ich ihn gefunden habe …«
Der Lärm und die fröhliche Musik des Schützenfests umrahmten das
stumme Entsetzen vor dem Zelt.
»Ich konnte nichts mehr machen«, keuchte Hubert Höing.
Annika trat einen Schritt zurück und sah ins Zelt. Hedwig Tönnes und
die beiden Frauen aus dem Dorf saßen unweit des Eingangs, sie hatten jedes Wort
gehört. Während die beiden Frauen bestürzt die Hände auf den Mund pressten,
hockte Hedwig Tönnes unverändert da, mitten in der Bewegung erstarrt. Sie sah
aus, als würde sie nicht begreifen, was geschehen war.
»Er ist tot!«, rief Hubert Höing. »Ewald ist tot!«
Langsam sank die Gabel zurück auf den Teller. Hedwig Tönnes glotzte
zu der Traube vor dem Zelteingang. Annika beobachtete gebannt ihr
Krötengesicht. Der Mund öffnete und schloss sich langsam. Dann begann sie zu
blinzeln, und ihre plötzlich verwundbaren Augen passten gar nicht mehr zu dem
verhärmten Gesicht.
Sie senkte den Blick, starrte ihren Teller an, und irgendwann, nach
endlos scheinenden Sekunden, nahm sie ihre Gabel und begann, langsam und
bedächtig, den Rest ihrer Sahnetorte zu essen.
Plötzlich brach auf der Festwiese Lärm aus. Ein Triumphschrei, dann
jubelnde Menschen und schließlich die Blaskapelle, die das Lied von den
Königskindern anstimmte. Irritiert blickte sich Annika um. Die Vogelstange
ragte jetzt nackt in den Sommerhimmel, der Holzvogel war endgültig abgeschossen
worden. Männer stürmten auf die Wiese, setzten den Schützen auf ihre Schultern
und trugen ihn zum Bierwagen. Mario Westlake war neuer Schützenkönig von
Erlenbrook-Kapelle.
»Wir müssen das Fest abbrechen«, rief ein Nachbar völlig außer sich.
»Einer muss die Polizei rufen.«
Annika sah zu Marios sonnenverbranntem Gesicht, das aus der Menge
ragte. Seine Augen leuchteten, er strahlte wie ein kleiner Junge, der
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