Bauernjagd
zurück
ins Handschuhfach und nahm sich vor, ihn später verschwinden zu lassen, damit
Marita keinen Verdacht schöpfte. Dann stieg sie aus dem Wagen und folgte ihrer
Schwester zum Kirchentor.
Ganz Erlenbrook-Kapelle war zur Beerdigung gekommen. So war es
Tradition. Auch wenn keiner Ewald Tönnes besonders gut hatte leiden können,
gehörte sich das einfach so. Die Nachbarn feierten die Totenmesse, folgten dem
Sarg über den Friedhof und setzten sich danach bei Kaffee und Kuchen in der
Dorfkneipe zusammen.
Im Gasthaus schienen Trauer und Bedrückung nach kurzer Zeit
vergessen. Es kam nicht oft vor, dass alle aus der Bauernschaft zusammentrafen.
Da gab es viel zu erzählen. Schnapsgläser mit Korn und Likör gingen durch die
Reihen, und schon bald wurden Witze zum Besten gegeben. Vom Tod war nur noch
wenig zu spüren in der engen Stube, vom Leben dafür umso mehr.
Als Annika von der Toilette zurückkam, hatten sich ein paar Frauen
aus der Nachbarschaft um Marita versammelt und redeten lautstark auf sie ein.
Es ging offenbar um den nächsten Ausflug ihres Kegelclubs.
»Natürlich kommst du mit zu den Chippendales!«, sagte eine zu
Marita. »Wie oft kommt das schon vor, dass die hier auftreten?«
»Außerdem haben wir längst die Karten gekauft. In der Kegelkasse war
genug Geld für alle.«
»Du musst alles andere absagen, Marita, uns zuliebe. Wir machen uns
einen richtig schönen Hühner-Abend.«
Marita lehnte sich zurück und hob abwehrend die Hände.
»Also gut, ihr habt gewonnen. Ich sag die Gemeinderatssitzung ab.«
Die Frauen jubelten. Annika quetschte sich an ihnen vorbei, um
zurück zu ihrem Platz zu gelangen.
»Marita bei den Chippendales?«, rief ein Bauer und begann zu lachen.
»Na, vielleicht ist da ja einer dabei, der ihren Ansprüchen genügt. Obwohl mich
das wundern würde, ehrlich gesagt.«
»Ach was, die Chippendales!«, kam es gut gelaunt von anderer Seite.
»Die Jungs kriegen doch Angst vor der. So einer sind auch die nicht gewachsen.«
»Die trauen sich erst gar nicht auf die Bühne!«
»Lasst Marita doch in Ruhe!«, mischte sich Clemens Röttger ein.
»Immer hackt ihr auf ihr herum.« Er lächelte nachsichtig. »Geh ruhig zu den
Chippendales und amüsier dich, Marita.« Und mit gleicher Freundlichkeit: »Und
nimm deine Bierkönigin vom Schützenfest mit. Vielleicht ist ja für sie ein Kerl
dabei.«
Die Bauern grölten und jubelten. Manfred Schulze Ahlerkamp, den
Marita zur Bierkönigin gewählt hatte, saß mit versteinertem Gesicht unter
ihnen.
Marita grinste böse. »Wie sieht’s aus, Manfred: Bist du dabei?«
Doch bevor der Schulzensohn etwas erwidern konnte, donnerte eine
Faust auf die Tischplatte. Hedwig Tönnes war am Tisch der Nachbarn aufgetaucht
und funkelte böse in die Runde. Keiner hatte sie kommen sehen.
»Wenn ihr hier schon auf meine Kosten sauft, könnt ihr wenigstens so
tun, als wärt ihr wegen Ewald hier.«
Sofort wurde es ruhig, die Nachbarn blickten schuldbewusst zu Boden.
Hedwig Tönnes sah voller Verachtung von einem zum anderen.
»Ich hätte Ewald in der Güllegrube verrotten lassen sollen«, spuckte
sie aus. »Dann hätte ich das Geld für diese lächerliche Beerdigung gespart.«
Damit wandte sie sich ab und kehrte zum Tisch der Familie zurück,
der sich am anderen Ende des Gastraums befand.
Ein Moment lang herrschte betroffenes Schweigen. Annika rutschte auf
ihren Platz neben Clemens Röttger. Dann nahmen die Nachbarn verhalten wieder
das Gespräch auf, und nach kurzer Zeit herrschte erneut ausgelassene Stimmung.
Am Ende des Tages löste die Gesellschaft sich auf, und alle fuhren
nach Hause. Auf dem Heimweg dachten sie wohl noch an Ewald Tönnes und an das
Schicksal, das ihn ereilt hatte. Doch zu Hause warteten bereits das Abendessen
und der Fernseher, der sie auf andere Gedanken brachte.
Es dauerte nur wenige Wochen, da waren der alte Bauer und sein
grausamer Tod in Erlenbrook-Kapelle so gut wie vergessen.
2
Theodor Horstkemper war eines der letzten Opfer des
Zweiten Weltkriegs geworden. Er starb in der Nacht zum 24. August 1992 auf
einer einsamen Landstraße nahe Erlenbrook-Kapelle. Sein Wagen war von der Fahrbahn
abgekommen und gegen einen Baum geprallt, trotz trockenen Asphalts, guter
Sichtverhältnisse und einer schnurgeraden Straße. Er war sofort tot gewesen,
ein Segen für ihn, wie sich herausstellte, denn der Wagen hatte Feuer gefangen,
und er wäre sonst auf grausame Weise in den Flammen ums Leben gekommen.
Anfangs konnte sich keiner
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