Bauernjagd
anmerken zu lassen. Mit
ruhiger Stimme fragte sie: »Seit wann wissen Sie das?«
»Seit gestern Abend. Clemens fährt schon seit Langem jeden Freitag
zu seinem Bruder nach Münster. Zumindest ließ er mich das glauben. Tatsächlich
aber war er woanders. Selbst seinem Bruder hat er nicht die Wahrheit gesagt.
Der glaubte nämlich, Clemens hätte eine heimliche Geliebte, die er jeden
Freitag besuchte. Deshalb hat er mir gegenüber so getan, als wäre Clemens immer
bei ihm.«
»Wo war er stattdessen?«
»In Bad Oeynhausen. Im Casino. Jeden Freitagabend und wann immer er
sich sonst ein paar Stunden wegschleichen konnte, ohne dass ich Verdacht
geschöpft habe.«
»Er brauchte das Geld fürs Glücksspiel?«
Sie nickte. »Er hat unsere ganzen Ersparnisse verloren. Außerdem hat
er Schulden gemacht. Wir stehen praktisch vor dem Nichts.« Sie blickte zu
Boden. »Er glaubt immer noch, dass sich das Blatt wenden kann. Er hat mich inständig
gebeten, ihm zu vertrauen. Im Casino will er sich alles wiederholen, was er
verloren hat. Er sagt, es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Aber das glauben Sie ihm nicht.«
»Es ist nicht nur das. Seine Cousine hat in der Bank gearbeitet. Er
wusste, wann sie allein ist, und hat seinen Überfall geplant. Sie ist seit
dieser Sache völlig verändert. Geht nicht mehr zur Arbeit, verbarrikadiert sich
in ihrem Haus und nimmt Tabletten. Wie kann er ihr das antun? Wie kann er jetzt
noch ruhig schlafen? Sie gehört doch zur Familie.« Sie blickte Heike fest in
die Augen. »Ich kann da nicht mitmachen, ich musste einfach etwas sagen.«
»Sie haben alles richtig gemacht. Spielsucht ist genauso gefährlich
wie jede andere Sucht. Mit dem Banküberfall hat Ihr Mann ein schweres
Verbrechen begangen, und dafür muss er vor Gericht gestellt werden.«
Gabriele Röttger lächelte traurig. »Richtig wäre gewesen, ich hätte
geschwiegen.« Sie stand auf und schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Das wäre
richtig gewesen. Aber ich kann es einfach nicht.«
Annika löste sich aus ihrer Starre, lief zur Straße und
blickte dem Lastwagen hinterher. Nach ein paar hundert Metern bremste er ab und
setzte den Blinker. Dann bog er auf den Wirtschaftsweg eines kleinen Waldes.
Unter den Bäumen sah sie eine Gestalt stehen, die dem Fahrer zuwinkte. Sie
traute ihren Augen nicht: Es war Marita.
Annika blickte zur Halle. Ein Grüppchen junger Männer stand vor dem
Eingang und rauchte. Sie fragte sich, ob sie Bernhard Hambrock hinzuholen
sollte. Schließlich hatte sie den Lastwagen zu dem Zeitpunkt, als Ewald Tönnes
ermordet worden war, in unmittelbarer Nähe seines Hofs gesehen. Doch glaubte
sie tatsächlich, dass Marita etwas mit den Mordfällen zu tun hatte?
Sie wandte sich von der Halle ab und ging entschlossen die Straße
hinunter. Als der Wald näherrückte, sprang sie nach kurzem Zögern über den
Straßengraben und lief im Schutze der Wallhecke weiter. Sie blieb mit dem
Knöchel an der Ranke eines Brombeerstrauchs hängen, Dornen rissen ein Loch in
ihre Nylonstrümpfe.
»Verdammt!« Sie löste die Ranke, doch eine Laufmasche arbeitete sich
bereits an ihrer Wade hoch. Sie bewegte sich nun vorsichtiger und erreichte
schließlich den Wald. Der silberne Tank des Lastwagens leuchtete zwischen den
Zweigen. Sie verbarg sich hinter einem Baumstamm. Der Motor war abgeschaltet,
Marita und der Fahrer waren weit und breit nicht zu sehen.
Was hat das nur zu bedeuten? Was machst du da, Marita?
Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Sie krallte sich an die
Baumrinde. Das Schützenfest. Natürlich. Es lag offen auf der Hand, und keinem
war es aufgefallen. Marita war zur Tatzeit nicht auf dem Schützenfest gewesen.
Kurz nachdem Annika dort aufgetaucht war, hatten die Schützen Marita überredet,
sich am Schießen zu beteiligen. Dabei war es Tradition, dass gleich zu Anfang
sämtliche Mitglieder des Schützenvereins einen Schuss abgaben. Danach leerte
sich das Feld, und es betätigte sich nur noch eine Handvoll Schützen am Wettbewerb.
Marita musste zu diesem Zeitpunkt gefehlt haben, sonst hätte später keiner
darauf bestanden, dass sie noch einen Schuss abfeuerte.
Das konnte doch alles nicht wahr sein …
Am Molkereiwagen rührte sich nichts. Offenbar waren Marita und der
Fahrer nicht mehr in der Nähe. Annika verließ ihr Versteck und näherte sich
langsam dem Lastwagen. Die Reifen hatten tiefe Furchen im Waldboden
hinterlassen, dazwischen erkannte sie die Abdrücke von Maritas Schuhen. Sie
umrundete den Wagen
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