Bauernjagd
geblieben. Ich stand nämlich zufällig am Fenster, kurz bevor er ermordet
wurde. Ich habe einen Fahrradfahrer gesehen, der zum Hof von Ewald hochgefahren
ist. Und jetzt rate mal, wer das war?«
Ada antworte nicht. Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
»Es war Marita.«
»Das ist unmöglich. Marita war auf dem Schützenfest. Sie ist
Bierkönig geworden.«
»War sie die ganze Zeit über dort? Bist du dir sicher?«
Natürlich hätte es keiner bemerkt, wenn sie für eine Weile
verschwunden wäre. Trotzdem wollte Ada nicht wahrhaben, was Melchior da sagte.
Es durfte einfach nicht wahr sein.
»Aber …« Sie fand keine Worte.
»Marita war am Tatort. Ich denke mir das nicht aus.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Ich habe es nicht dir zuliebe der Polizei verschwiegen, sondern
weil das diese Leute nichts angeht. Es wühlen ohnehin schon so viele Menschen
hier im Dreck. Dabei sind das unsere Angelegenheiten, wir müssen sie selbst
klären.«
Er packte Ada hart am Arm und zog sie zu sich heran.
»Du musst das in Ordnung bringen, hörst du, Ada?« Seine Stimme war
eindringlich. »Bring das in Ordnung. Und dann lass mich und meinen Sohn ein für
alle Mal in Frieden.«
Er stieß sie von sich fort. Ada ließ es geschehen. Schwerfällig
stand sie auf und stützte sich an der Stuhllehne ab. Sie sammelte ihre letzten
Kraftreserven. Dies hier musst du noch zu Ende bringen, dachte sie, erst danach
darfst du dir erlauben, Schwäche zu zeigen.
Sie blickte hinüber zum Familientisch. Sophia saß dort mit Bernhards
Frau, sie schienen sich angeregt zu unterhalten. Maritas Platz jedoch war leer.
Gerade eben hatte sie noch dort gesessen. Doch jetzt war weit und breit nichts
mehr von ihr zu sehen.
Annika war ins Wohnhaus gelaufen, um zur Toilette zu
gehen. Sie hatte nicht viel Zeit, sie und die Nachbarsmädchen waren völlig
überfordert mit dem Ansturm in der großen Halle. Eilig wusch sie sich die Hände
und verließ das Bad. Im Haus war es totenstill. Das war ihr gleich als Erstes
aufgefallen, als sie eingetreten war. Die Stille stand in einem seltsamen
Kontrast zu dem geräuschvollen Treiben in der Halle. Sie bewegte sich wie in
einer Blase.
Die Türen standen offen, sie blickte in die verwaisten Räume. Alles
war blitzblank geputzt, Gabriele wollte sich offenbar nichts nachsagen lassen.
Trotzdem wirkten die Räume unbewohnt und kalt.
Ihr wurde unbehaglich. Sie wollte raus aus diesem leeren Haus. Im
Vorbeigehen warf sie einen Blick in die Küche. Abrupt blieb sie stehen. Auf dem
blank geputzten Tisch lag ein großes Messer. Es befand sich im rechten Winkel
zur Tischkante, die Klinge blitzte in der Nachmittagssonne. Sie sah sich um,
doch außer dem Messer war in der Küche alles an seinem Platz. Sie zögerte, dann
drehte sie sich um und lief eilig hinaus.
Draußen atmete sie auf. Ein warmer Wind fuhr ihr durchs Gesicht, aus
der Halle drang das gedämpfte Stimmengewirr der Trauergäste. Doch dann mischte
sich ein weiteres Geräusch in den Wind. Ein dumpfes Grollen, das langsam lauter
wurde. Es kam von der Straße, eine Scheune versperrte ihr den Blick. Sie
runzelte die Stirn. Das Grollen war jetzt ganz nah, und plötzlich tauchte ein
riesiger Lastwagen hinter der Scheune auf. Die Maschinen heulten, eine
Staubwolke wirbelte auf, auf dem silbernen Tank glitzerte das Sonnenlicht. Ihr
Herz setzte einen Schlag aus: Es war der Lastwagen der Molkerei.
Gabriele Röttger führte Heike zu einer Holzbank hinter der
großen Halle. Die Bank stand unter einer leuchtend roten Buche, von dort hatten
sie einen weiten Blick über die herbstlichen Felder.
Gabriele saß schweigend neben ihr und betrachtete die Landschaft.
Heike wartete. Ein schwacher Wind kam auf, abgestorbene Blätter segelten durch
die Luft.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
Gabriele Röttger begann zögernd zu reden.
»Clemens hat ein furchtbares Verbrechen begangen. Ich habe ihm
geschworen, keinem etwas zu sagen. Aber es ist nicht recht. Ich kann das
einfach nicht.« Daraufhin verfiel sie wieder in Schweigen. Heike unterdrückte
den Impuls, sie zum Weiterreden zu drängen. »Clemens war es, der die Bank in
Nordwalde überfallen hat«, sagte sie endlich.
»Er steckt hinter diesem Überfall?«
»Ja. Er brauchte Geld, und da war ihm jedes Mittel recht. Auf
unserem Dachboden finden Sie alle Beweise, die Sie benötigen. Seine Maskierung,
die Waffe und den Rest der Beute. Viel ist allerdings nicht mehr davon übrig.«
Heike versuchte, sich ihre Aufregung nicht
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