Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
an, den Kollegen aus der Wirtschaftskriminalität.
»Hallo Lukas, was ist eine Nachtragsliquidation?«
»Wo hast du das denn her?« Der Kollege lachte und fuhr fort, als Lichthaus schwieg: »Egal. Wenn ein Unternehmen pleite ist, wird das gesamte Vermögen verkauft, damit diejenigen, die noch was von der Firma zu bekommen haben, zumindest einen Teil ihrer Forderungen wiederbekommen. Wenn nach der Auflösung des Unternehmens weiteres Vermögen aus bisher unbekannten Quellen auftaucht, wird dieses wieder verteilt. Hierbei spricht man von Nachtragsliquidation, einem offiziellen Akt.«
Lichthaus bedankte sich und las weiter. Sein Schwiegervater hatte über eine Seite Gründe angeführt. Wenige Blätter später ein weiterer Aktenvermerk von Claudias Vater. Jetzt sprach er sich gegen eine nachträgliche Liquidation aus und begründete seine neue Meinung mit etlichen Argumenten. Lichthaus runzelte die Stirn und ging wieder zurück, seine Verwirrung stieg. Die GmbH war zum Zeitpunkt der Diskussion schon aufgelöst und gelöscht gewesen, doch war noch Vermögen aus einer Forderung gegenüber einer Versicherung aufgetaucht, das verteilt werden sollte. Im zweiten Brief stufte Karl Bentheim die Forderung dann allerdings als uneinbringlich ein und verwarf die Nachtragsliquidation.
Er schaute aus dem Fenster. Im Weinberg am Petrisberg wurde gearbeitet, ein Indiz für das beginnende Frühjahr. Nachdenklich spielten seine Hände mit den Kugeln. Wieso diese Kehrtwende. Er blätterte weiter, fand aber keinen Beleg, der den Sinneswandel seines Schwiegervaters begründet hätte. Lichthaus stutzte. Es sah Karl nicht ähnlich, Regeln zu verletzen. Seiner Wahrnehmung nach war er ein aufrichtiger, ehrlicher Mann, der sich nicht so einfach manipulieren ließ. Sollte es für seine geänderte Meinung also eine Begründung geben, würde er sie sofort nachliefern. Doch Lichthaus’ Argwohn war geweckt. Ausgerechnet bei der feedstuffPRO, deren Gesellschafter nun ermordet worden waren. Er wollte gerade zum Telefon greifen, als dieses klingelte. Siran klang aufgeregt: »Es geht los, wir konnten Telefonate abfangen.«
Er zögerte, doch dann wählte er die Nummer seiner Schwiegereltern. Clara Bentheim war schon beim zweiten Klingeln am Apparat und freute sich, seine Stimme zu hören. Lichthaus mochte Claudias Mutter. Nach kurzem Plausch fragte er nach Karl, der auch sogleich den Hörer übernahm: »Hallo Johannes, was kann ich für dich tun, Junge?«
»Sagt dir der Name feedstuffPRO noch etwas? Ich habe da zwei Schreiben von dir gefunden und verstehe den Vorgang nicht wirklich.«
Eine Pause entstand, in der er praktisch sehen konnte, wie sein Schwiegervater mit sich rang. »Hast du Zeit?«
»Eventuell heute am späten Nachmittag. Wieso?«
»Das würde ich dir gerne unter vier Augen erklären. Komm, wann du willst, ich bin zu Hause.«
*
Claudia saß im Auto und wartete auf Otto. Zum sicherlich zehnten Mal schaute sie auf die Uhr und schüttelte den Kopf. In zwanzig Minuten sollten sie am Krankenhaus sein, doch der Alte wühlte noch immer in seiner Wohnung herum. Henriette war in ihrem Kindersitz bereits eingeschlafen, und das war auch gut so, denn sie hatten viel vor. Hinten im Kofferraum des Berlingos standen die Schamottformen ihrer Skulpturen. Es waren nur zwei fertig geworden, da es mehr Zeit gebraucht hatte als gedacht, um die dünnen Wachsfiguren aus der Negativform zu holen. Gestern hatte sie die beiden Wachspositive in einen Holzkasten mit Schamottbad getaucht und beides erstarren lassen. Was nun kam, bedurfte eines Ofens, den sie leider nicht hatte. Bei dem Verfahren erhitzte man drei Tage lang die Formen, wobei das gesamte Wachs herausschmolz und in dem ausgehärteten Schamott Hohlräume in Form der Plastik hinterließ. Anschließend, und hierzu wollte sie unbedingt wieder zur Gießerei fahren, kam der Guss mit rotglühender Bronze. Der große Moment stand dann unmittelbar bevor. Der Schamott wurde abgeschlagen und der Rohling ihrer Skulptur wäre fertig. Dann kam die Endarbeit: Die Einfüllstutzen wurden abgesägt und zugeschweißt, danach die Politur.
Endlich kam Otto aus dem Haus. Er hatte sich einen Sportanzug gekauft, der an seinem alten, gebeugten Körper irgendwie fehl am Platz wirkte. Und dann der ewige, speckige Lederhut. Als er jetzt auf das Auto zuschlurfte, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr ihrem Freund der Verfall anzusehen war. Langsame Schritte, fahle Haut und unsteter Blick. Er öffnete die Tür und rang
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