Bauernopfer
war ein exzellenter Ermittler, wenn es um eine Insolvenz, einen Firmenbankrott oder einen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz ging. Im Umgang mit Firmenchefs, Anwälten und Steuerberatern blühte er auf. Aber wenn es um Leichen oder um allgemeine polizeiliche Ermittlungen in den Niederungen des Lebens ging, dann legte er für gewöhnlich ein schon sprichwörtliches Desinteresse an den Tag.
15 Minuten nach dem Anruf der Einsatzzentrale öffnete sich wie von Geisterhand das schwere Eisentor, und sie verließen den Innenhof der Polizeidirektion. Nager hatte zunächst noch versucht, Charly zu überreden, alleine zu dem Selbstmord zu fahren, weil die Sache ja ohnehin klar und mit Sicherheit ohne Schwierigkeiten aufzunehmen wäre. Mit ein wenig Honig ums Maul hatte Charly ihn jedoch überzeugen können, dass seine Anwesenheit dringend erforderlich war. Das war nicht ungefährlich, denn Nager war kriminalpolizeiliches Urgestein, zweifellos mit den älteren Rechten und mit dem besse ren Draht zum Chef. Charly hingegen gehörte erst seit sechs Jahren der Kripo an. Er war damals auf eigenen Wunsch aus dem Schichtdienst der Ingolstädter Inspektion zur Kripo versetzt worden und nach Stationen bei der Fahndungseinheit und beim Erkennungsdienst schließlich beim Kommissariat 1 gelandet, das für Morde und andere Todesfälle, Vergewaltigungen und dergleichen mehr zuständig war.
Einen großen Fall hatte Charly bis jetzt nicht bearbeitet. Nur einige in ihren Wohnungen aufgefundene Leichen, die an einem Sturz von der Leiter oder an langjährigem Alkoholmissbrauch gestorben waren, sowie einen Selbstmörder. Und dies hier schien sein zweiter Suizid zu werden.
Nager hatte schließlich akzeptiert, dass er Charly zum Tatort begleiten musste. Er rief seine Frau an und legte ihr nahe, den geplanten Besuch im Museum für Konkrete Kunst alleine zu genießen, und wirkte darüber gar nicht so besonders unglücklich.
Er steuerte den Dienst-Audi in den Südwesten der Stadt. Knoglersfreude gehörte zwar zur Stadt Ingolstadt, war jedoch vom eigentlichen Stadtgebiet durch Felder und Wiesen getrennt und hatte sich so den dörflichen Charakter bewahrt. Zielsicher bog Nager zweimal rechts ab. Unter den Zweigen einer Trauerweide rang ein verrostetes Verkehrsschild um Beachtung und versuchte, die Roßlettenstraße für alle Nichtanlieger zu sperren. Nachdem sie einige kleine Häuser passiert hatten, fuhren sie an mehreren Koppeln vorbei. Auf Höhe des dazugehörenden Pferdehofes endete die Asphaltdecke und die Straße wurde zu einem geschotterten Weg. 100 Meter weiter lag der gesuchte Bauernhof links von der Schotterstraße. Eine mit Dachziegeln belegte Mauer trennte das Anwesen vom Weg. Durch die breite, torlose Einfahrt fuhr Nager auf das Grundstück und brachte den Wagen knirschend auf dem Kies im Innenhof zum Stehen. Dort parkten bereits ein Streifen- und ein Rettungswagen. An keinem der beiden Fahrzeuge war das Blaulicht eingeschaltet.
Es war Viertel vor sieben und die Sonne war gerade untergegangen. Mit der Dämmerung zog leichter Nebel von der Donau herauf. Offensichtlich hatte sich die Neuigkeit schon herumgesprochen und hilfsbereite sowie wissbegierige Dorfbewohner und Spaziergänger wollten sich ein Bild vom Geschehen machen. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und gepresst getuschelte Gesprächsfetzen wie »… kein Wunder …« oder »… z’widerner Kerl …« und »… satte Erbschaft …« waberten durch den Dunst. Ansonsten war es auffallend still. Als Charly und Nager ankamen, riefen die Kirchenglocken aus der Ortsmitte zum Abendgebet.
Beim Aussteigen wurde Charly schmerzhaft an die Löcher in den Sohlen seiner Cowboystiefel erinnert. Kieselsteine und noch etwas Spitzes drückten unangenehm gegen seine Fußsohle. Er bückte sich und hob einen gelben Plastiknagel auf. Aus Pietätsgründen verkniff er sich eine Bemerkung über schlampige Bauern und steckte den Fund gedankenverloren in die Tasche seiner Jeansjacke. Die Streifenkollegen hatten ihr Gespräch mit den Sanitätern beendet und kamen zu Charly und Nager herüber. Den Älteren der beiden kannte Charly. Es handelte sich um einen ruhigen, besonnenen Beamten, zuverlässig, pflichtbewusst und zufrieden mit seiner Stellung. Der andere war ein junger Kommissar und damit ranghöher als sein Streifenpartner. Ihn kannte Charly nicht, was aber aufgrund des schnellen Personalwechsels bei der Ingolstädter Inspektion nicht weiter verwunderlich war. Schon am Gang des
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