Bauernopfer
utopische Theorien kamen.
Charly sah sich weiter im Stall um. Auch hier blätterte an mehreren Stellen der Putz von den Wänden. In zwei Reihen hingen einfache, angerostete Metalllampenschirme von der Decke, deren 100-Wart-Glühbirnen den Raum in grelles Licht tauchten. Nur die Stellplätze der Tiere machten einen durchaus gepflegten Eindruck. Die Futtermulden waren zwischenzeitlich frisch mit Heu gefüllt worden. Der Boden vor den Boxen war mit Heu bedeckt und das verstreute Heu mischte sich mit Trockenfutter, Staub und Dreck vom Hof. Wahrscheinlich ist das in einem Kuhstall ganz normal, dachte Charly und nahm sich vor, sich darüber zu erkundigen.
Durch den Tatorttourismus war das Streugut gleichmäßig über die ganze Fläche verteilt. Mit dem Auffinden von Spuren am Boden war also nicht zu rechnen. Auch über die Leiche waren zahlreiche trockene Grashalme verteilt und Charly schoss der Gedanke durch den Kopf, wer wohl die Tiere gefüttert hatte, während hier die Leiche lag. Und wer hat sie gemolken?
»Und, erster Eindruck? Was hältst davon?«, fragte Fischer.
»Bilderbuch-Selbstmord. Glasklarer Fall scheinbar. Also Vorsicht!«, fasste Charly seinen ersten Eindruck zusammen. Die Praxis hatte schon oft gezeigt, dass glasklare Fälle hie und da dunkle Geheimnisse bargen.
Dann begannen Fischer und Charly mit der Arbeit an der Leiche. Sie fotografierten und entkleideten den Toten, beschrieben und diktierten, maßen und skizzierten. Bei der Untersuchung des Leichnams entdeckten sie den vermeintlichen Einschuss, ein kleines Loch zwischen der Schläfe und dem rechten Ohr, ein wenig nach oben versetzt und großteils vom Haaransatz verdeckt. Ein etwas größeres Loch befand sich hinter dem linken Ohr. An dieser Verletzung war Blut ausgetreten, das am Hals nach unten gelaufen und von dem Baumwollhemd aufgesaugt worden war.
»Was hältst du von den Blutspuren an der Wand?«, fragte Fischer.
Charly nickte. »Ist mir auch aufgefallen: Es sind Wischer, keine Spritzer, wie’s bei einem solchen Schuss eigentlich entstehen müssten.«
Je länger sie mit Bichlers Leiche zu tun hatten, desto größer wurden die Zweifel, es hier tatsächlich mit einem Suizid zu tun zu haben. »Das war jedenfalls kein aufgesetzter Schuss. Das ist bei einem Selbstmord zwar nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich«, zog Charly ein erstes Fazit.
Die Waffe war bereits verpackt. Nun sicherte Fischer mit speziellen Folien Schmauchspuren an der Schusshand. Und das gehörte nicht mehr zum Routineprogramm bei einem klaren Selbstmord.
»Die Pistole wirft die leere Hülse nach rechts aus. Ich kann aber nirgends diese dämliche Hülse finden. Natürlich kann die irgendwer bei dem ganzen Publikumsverkehr weggekickt haben. Aber irgendwo muss’ ja sei’.« Fischer plagten dieselben Zweifel wie Charly. »Außerdem müsst des Projektil hier irgendwo in d’Mauer gegangen sein.« Er deutete auf die Stallwand rechts von der Leiche. »Da is’ aber absolut nix.«
»Wenn er aber den Kopf beim Schuss nach rechts gedreht hat, dann ist der Winkel ganz ein anderer und dein Projektil liegt irgendwo da hinten zwischen den Kühen. Das findet kein Mensch.« Charly suchte nach Erklärungen, die das vorgefundene Spurenbild logisch zusammenfügten. Aber irgendwo hakte es immer.
Trotz aller Zweifel hatten sie irgendwann alles erledigt, was sie zu diesem Zeitpunkt vor Ort tun konnten.
»Und?«, fragte Fischer.
»Saublöd«, antwortete Charly und damit war im Moment alles gesagt.
Es waren zwei Stunden vergangen, als der Mercedes der Bestattungsfirma auf den Hof rollte und vor dem Stall stoppte. Die Leiche wurde in einen Zinksarg verladen und im Heck des dunkelvioletten Wagens verstaut.
Fischer und Charly verließen den Stall und trafen im Hof auf Nager, der bereits auf sie wartete.
»Na endlich, ich hab schon gedacht, ihr kommt gar nicht mehr raus. Ich steh hier schon beinah eine Stunde.« Er hatte es aber nicht für nötig befunden, in den Stall zu kommen und seine Unterstützung anzubieten.
Der Leichenwagen verließ den Hof. Auch die Beamten beschlossen nach einer kurzen Beratung, angesichts der fortgeschrittenen Stunde die weitere Tatortarbeit auf morgen zu verschieben. Fischer übernahm die Aufgabe, alle Gebäude zu versperren und zu versiegeln. Zuvor hatte er kurz die Wohnräume inspiziert, dabei aber nichts Auffälliges, auch keinen Abschiedsbrief, entdeckt.
Fischer verabschiedete sich bis zum nächsten Morgen nach Hause, obwohl er sich nicht
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