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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Ich kann mich nicht entscheiden. Das heißt, natürlich entscheide ich mich irgendwann für oder gegen etwas, wie jeder. Bloß, bei mir dauert es.
    Durch den Seitenausgang des Bahnhofs raus, linksrum, über die Straße, drei Stufen runter. Da stand ich und besah mir das Schaufenster. Dabei gab es da gar nichts zu sehen. Hätte ich mich umgedreht, hätte ich den Verkehr auf der Eppinghofer Straße betrachten können, die endlose Schlange der Autofahrer, immer in Eile, oder die Passanten, wie sie durch die Dunkelheit und den langsam fallenden Nieselregen hasteten, oder den fröstelnden Weihnachtsbaumverkäufer auf der Straßenseite gegenüber. Doch ich hatte mir schon lange angewöhnt, mich wegzudrehen, wenn ich eine Entscheidung zu treffen habe. Irgendwie scheint man mir das nämlich anzusehen. Wildfremde Leute bauen sich sonst plötzlich vor mir auf und fragen Sachen wie: >Ist Ihnen nicht gut?< Oder: >Kann ich Ihnen helfen?< Obwohl, das ist selten geworden. Meistens fragen sie heute: >Gibt es ein Problem?< Oder, vertraulicher: >Haben wir ein Problem?< Ein Problem? Richtig verliebt sind sie in dieses Wort, die Leute.
    Ich stand also da und hielt meinen Blick auf die von innen rotgestrichene Scheibe gerichtet und dachte nach. Viel Geld hatte ich nicht mehr. Gleich, im Laden, wenn ich denn reinginge, würde ich es nachzählen. Auch so etwas, was ich mir angewöhnt hatte: mein Geld nicht mehr auf der Straße herauszuholen. Irgend jemand stoppt sonst, fragt: >Haben Sie ein Problem?<, und ehe ich mir die Worte zurechtgelegt habe, um eine Antwort zu formulieren, ist er weitergegangen, und gar nicht mal so selten ist mein Geld mit.
    Eine Antwort formulieren, ja. Wenn ich ein Problem habe, dann das. Kein Mensch scheint zu begreifen, wie schwieriges ist, einen Satz zusammenzustellen. Allein die Auswahl an Wörtern ist ja immens. Und um überhaupt damit anzufangen, sich die richtigen herauszusuchen, muß man sich erstmal darüber im klaren sein, was man sagen will. Und dann kommt auch schon das Wie. Man kann da nicht vorsichtig genug zu Werke gehen. Nehmen wir an, jemand fragt: >Haben Sie ein Problem?< Was, bitte, soll ich darauf antworten? Sage ich >Ja<, kurz und knapp, obwohl das ja gar nicht stimmt, stimmen kann, niemand hat nur ein Problem, es sind immer Kombinationen, scheußlich schwierig zu entwirren, noch schwieriger zu erklären, doch, nur mal angenommen, ich sage >ja<. Was ist das Resultat? Die Hölle bricht los. Tausend neue Fragen folgen auf dem Fuße, alle auf einmal. >Was für ein Problem? Ist Ihnen schlecht? Haben Sie sich verlaufen? Hat man Sie beraubt? Stehen Sie unter Schock? Sollen wir die Polizei rufen? Einen Krankenwagen? Die Feuerwehr?< Immer schnell, schnell jemanden rufen. Jemand in Uniform wird sich des Problems schon annehmen. Es zumindest wegkarren. Nein, danke.
    Antworte ich mit >nein<, wird es nicht besser. Was, Sie haben kein Problem? Warum stehen Sie dann so verdutzt in der Gegend rum? Wieso halten Sie ihr offenes Portemonnaie in der Hand? Sind Sie sicher, daß Sie keine Hilfe brauchen? Sind Sie sicher? SICHER? SICHER?<
    Nein, bin ich mir nicht. So gut wie nie. Und selbst wenn. Selbst wenn ich auch nur halb so schnell hätte antworten können, wie die Fragen der vier Jugendlichen, die mich aus dem Nichts heraus plötzlich umringt hielten, auf mich einprasselten, selbst dann glaube ich nicht, daß ich mit der Wahrheit herausgerückt wäre. Nämlich damit, daß ich dort stand, weil ich mir nicht sicher war. Langsam waren meine Augen die aufgeklebten weißen Buchstaben entlanggewandert. Sollte ich mein Geld für die Non-Stop-Videokabine ausgeben oder für eines der nicht näher beschriebenen Magazine? Für beides, fürchtete ich, würde es nicht langen. Und für eines von beiden konnte ich mich, wieder mal, nicht entscheiden.
    Draußen war es schon lange hell, doch bei mir begann die Dämmerung erst so langsam einzusetzen. Das mußte mindestens eine Gehwegplatte gewesen sein, die man mir gestern Nacht über den Schädel gezogen hatte. Mindestens. Mühsam hebelte ich ein Lid soweit hoch, daß Licht in eine meiner Pupillen dringen konnte. Uuh, es drang mit Macht. Ich ließ das Lid wieder sacken.
    Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite, beschattete die Augen mit der Hand und wagte noch einen Versuch. Trotz der Schlieren auf meinen Linsen war es klar, daß ich nicht daheim war. Sondern irgendwo anders. Mit der freien Hand tastete ich um mich. Da war niemand sonst. Ich war allein. Allein in einem

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