Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
1
London, 1954
T ut mir Leid, dass Sie warten mussten, Estella«, sagte Dr. Blake, als er wieder ins Sprechzimmer kam. »Die Untersuchung hat etwas länger gedauert als üblich. Meine neue Assistentin ist noch ein bisschen unsicher. Ein Glück, dass sie nicht bei jeder Spritze in Ohnmacht fällt ...«
»Bitte, Dr. Blake, wie lautet das Ergebnis?«
Arthur Blake spürte Estellas Ungeduld, und so teilte er ihr die Neuigkeit sofort mit.
»Ihre Vermutung war richtig, Estella. Sie sind schwanger. Ich gratuliere!«
Zu Dr. Blakes Erstaunen schien Estella alles andere als glücklich zu sein. Über seinen unordentlichen Schreibtisch hinweg sah er, dass sie auf der vordersten Kante des Stuhles saß, die unruhigen Finger im Schoß ineinander verschlungen. Sie hielt den Kopf gesenkt. Als sie ihn wieder hob, sah er Tränen in ihren großen grünen Augen und auf ihren blassen Wangen glitzern.
»Ich weiß nicht, ob die Neuigkeit wirklich ein Grund für Glückwünsche ist, Dr. Blake.«
Der Arzt war ein älterer Herr und schon vor Estellas Geburt Hausarzt ihrer Familie gewesen. Er hatte sie auf die Welt geholt, und es brach ihm fast das Herz, sie nun so unglücklich zu sehen.
»Was ist denn, Estella? Möchten Sie das Kind nicht?«
Sie nickte, schüttelte dann jedoch den Kopf, um Dr. Blake gleich darauf durch ein erneutes Nicken zu verwirren.
»Es tut mir Leid, dass ich so sentimental reagiere, Dr. Blake.Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Normalerweise bin ich eine ruhige, sachliche Frau, aber zurzeit breche ich beim geringsten Anlass in Tränen aus und widerspreche dem armen James in fast allem, was er sagt.«
Der Arzt kam um den Tisch herum und nahm ihre Hand. »Das ist unter diesen Umständen ganz normal, Estella. Ihr Körper macht dramatische Veränderungen durch.«
»Wollen Sie damit sagen, dass diese Empfindlichkeit die ganze Schwangerschaft hindurch anhält?«
»Nein, Ihre Gefühlswelt beruhigt sich schon wieder. Und machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie ab und zu ein bisschen vergesslich sind – das ist völlig normal. Leiden Sie unter morgendlicher Übelkeit?«
»Manchmal fühle ich mich unwohl, ja, aber zu ganz unterschiedlichen Zeiten.«
»Diese Übelkeit muss nicht unbedingt nur am Morgen auftreten. Zu allen Tageszeiten kann Ihnen vorübergehend schlecht sein. Außerdem kann Ihr Geschmacksempfinden sich verändern. Es ist möglich, dass Sie den Geruch von Speisen, die Sie sonst gern gegessen haben, plötzlich nicht mehr ertragen, oder Sie entwickeln eine Vorliebe für Dinge, die Sie vorher nie mochten ...«
»Du liebe Zeit, das hört sich ja schrecklich an!«
»Ob Sie’s mir glauben oder nicht, Estella, es wird im Gegenteil wunderschön!«
Die junge Frau schluchzte. »Ich habe Biologie, Anatomie und Physiologie studiert. Da sollte man doch meinen, ich wüsste über alle körperlichen und seelischen Veränderungen in der Schwangerschaft Bescheid ...«
Dr. Blake ließ sich auf der Ecke seines Schreibtisches nieder und erwiderte lachend: »Sie haben Tiermedizin studiert, Estella, und alles über Hunde und Katzen, Pferde und Kühe gelernt – aber nicht über Menschen. Deren Gefühlswelt ist schon ein wenig komplizierter als die der Tiere.« Er runzelte die Stirn.»Oder macht Ihnen der Gedanke Sorgen, was James zu der Schwangerschaft sagen wird?«
Estella nickte, und ihre Augen schimmerten schon wieder verdächtig. »Er ist noch nicht bereit, die Rolle eines Vaters zu übernehmen.«
»Ob er bereit ist oder nicht, jetzt muss er sich damit abfinden. Und Sie dürfen sich nicht aufregen, das bekommt weder Ihnen noch dem Kind. Ich bin überzeugt, James wird begeistert sein, wenn er sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hat.« Dr. Blake reichte ihr ein sauberes Taschentuch.
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte sie. »Wann immer ich dieses Thema angesprochen habe, wollte er gar nicht erst darüber reden.«
»Aber Ihre Ehe ist doch glücklich?«
»Ja. Nur ... James ist im Grunde seines Herzens noch ein großer Junge.«
Arthur Blake lächelte und zwinkerte ihr beruhigend zu. »Ich fürchte, daran wird sich auch nichts ändern, bis er wirklich Verantwortung tragen muss. Ein ganzes Jahr lang waren Sie zu zweit und mussten an niemand anderen denken – also gab es für James keinen zwingenden Grund, erwachsen zu werden. Sicher ist seine Arbeit als Anwalt sehr anstrengend, aber Sie haben zusammen alles genießen können, was London an gesellschaftlichen Ereignissen zu bieten hat.«
»Ja, das
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