Beautiful Americans - 03 - Leben á la carte
anvertrauen sollen«, sagt Sara-Louise. »Ihr hättet Madame Cuchon anrufen sollen. Was ist nur los mit dir, Alex?«
Ich hole zweimal tief Luft und versuche, ihr zu antworten. Aber es klingt wie eine armselige Ausrede. »Sie hat uns nie wirklich um Hilfe gebeten. Sie wollte uns nur Tschüss sagen, und wir haben gedacht, wir könnten sie finden und ihr helfen, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen.«
Mary nickt und streichelt mir über den Arm, sieht aber nicht im Mindesten überzeugt aus. »Schon okay, Alex. Wir wissen, dass du's gut gemeint hast.« Ich blicke zu Olivia und Zack hinüber und wünsche mir, dass sie mir bei der Verteidigung des Geschehenen helfen könnten.
Gut gemeint?
Wir haben doch gar nichts getan!
Aber vielleicht war eben genau das falsch.
In diesem Augenblick rauscht Mme Cuchon mit angespannter Miene ins Klassenzimmer. Ihre roten Haare wirken stumpfer als sonst und auch ihre Kleider haben gedämpftere Farben. Im Gefolge hat sie alle Lehrer aus dem »Programme Américain«, einschließlich ihrer rechten Hand Mlle Vailland.
Mlle Vailland hat eine Stimme, die einem die Haare zu Berge stehen lässt - so nervig-schrill klingt sie. Aber die Jungs mögen sie wegen ihrer guten Figur und ihres hübschen, jugendlichen Gesichts. Heute sieht man ihr an, dass sie geweint hat. Sie sagt nichts zu niemandem.
»Bonjour, tout le monde «, begrüßt uns Mme Cuchon. »Ihr wisst, dass sich eine schreckliche Tragödie ereignet hat. Wie ich in der E-Mail an euch alle geschrieben habe, hat es den Anschein, als habe Penelope Fletcher irgendein Unglück ereilt. Die französische Polizei, ebenso wie die internationalen Behörden, die an dem Fall arbeiten, nehmen an, dass sie einen Selbstmordversuch begangen hat. Mehrere Nachrichtenagenturen haben darüber berichtet.« Mme Cuchon gibt Mlle Vailland, die einen Stapel Zeitungen in der Hand hält, einen Wink. »Wir wollen euch ermutigen, die Artikel zu lesen, denn ihr wollt sicher wissen, was geschehen ist, und ihr habt natürlich ein Anrecht auf diese Informationen.«
Mlle Vailland reicht Jay, der an einem der Tische in der vorderen Reihe sitzt, eine Zeitung, aber der nimmt sie nicht entgegen - er würdigt sie nicht mal eines kurzen Blickes. Daraufhin schnappt sie Mary sich von seinem Tisch und breitet sie vor sich aus.
La une, die erste Seite, ist mit einem langen Artikel bedruckt, in dem die gleichen Einzelheiten aufgelistet sind, die wir alle schon kennen, wie Mme Cuchon weitererzählt, während andere Schüler die Zeitungen aufschlagen, darunter die International Herald Tribune auf Englisch. Nicht alle Artikel sind so umfangreich wie der in Aujourd'hui en France, der Zeitung auf Marys Tisch, aber es scheint so, als hätten alle wichtigeren überregionalen Zeitungen Interesse daran, zu erfahren, was mit PJ in Rouen passiert ist.
Über dem Artikel ist das Foto einer Brücke abgedruckt, die mit Absperrbändern der Polizei abgeriegelt ist. An den Bildern ist nichts Blutiges oder Brutales - man hat die Leichen wie gesagt noch nicht gefunden aber diese beiden Rucksäcke am Ort des incident sehen so morbide aus wie der Kreideumriss einer Leiche auf Asphalt. Bei dem Anblick krampft sich mein Magen zusammen.
»Keiner - ich wiederhole: keiner - hat irgendwelche stichhaltigen Beweise dafür, was wirklich geschehen ist«, erklärt Mme Cuchon. »Es hat zwar einen Abschiedsbrief gegeben, aber es besteht die Möglichkeit, dass der Selbstmordversuch misslungen ist.« Aus ihrer Stimme klingt Hoffnung heraus. Sie will einfach nicht glauben, dass einer ihrer Schüler in Paris so unglücklich sein konnte. »Wir wissen es erst, wenn die Ermittlungen handfestere Antworten zutage bringen.«
Aujourd'hui en France gehört zu den Zeitungen, die in kleinerem Format erscheinen. So können wir sie lesen, ohne sie auseinanderfalten zu müssen, genau wie es bei der New York Post der Fall ist, einer Zeitung, die meine Mom täglich liest, auch wenn sie das nie zugeben würde. Und wie bei der Post ist die erste Seite farbig gedruckt. Die Rucksäcke auf der Brücke heben sich knallblau und rot von der verschneiten Brücke ab. Sie sehen neu aus. Um genau zu sein, sogar funkelnagelneu.
Das ist gar nicht PJs Rucksack, wird mir klar, während ich weiter das Foto betrachte. Bei dem Gedanken überläuft es mich eiskalt. Ihr Rucksack ist grün. Und er ist ungefähr hundert Jahre alt. Das Teil würde ich nie vergessen. Es ist schon fast antik!
»Macht euch innerlich aufs Schlimmste gefasst«, rät
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