Begegnung in Tiflis
Begabung, die man ausbauen kann«, sagte er ruhig. »Bitte starren Sie mich nicht so an, Irene – es hat gar keinen Sinn, mir etwas vorzuspielen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, hatte Irene gesagt. »Woher kennen Sie meine Mutter?«
Und Herr Albrechten hatte leise gelacht und geantwortet: »Ich habe Ihre Mutter nie gesehen. Aber ich kannte Reiner Burckhardt. Geben wir das Versteckspielen doch auf. Ich heiße Jurij Alexandrowitsch Borokin, und wir beide wissen nur zu genau, warum der ›betrunkene Autofahrer‹ Reiner getötet hat.«
Als Borokin eine Stunde später ging, hatte er Irenes Zukunft in den Händen. Sie erfuhr, daß Reiner Burckhardt einer der kleinen Kontaktmänner gewesen war, die der sowjetische Geheimdienst in die Bundeswehr eingeschleust hatte; ein winziges Auge Moskaus, das plötzlich beschlossen hatte, blind zu werden und sich weigerte, weitere Informationen zu liefern. Um allen Unannehmlichkeiten zu entgehen, ließ man das kleine Auge Moskaus vollends erblinden.
Verzweifelt hatte sich Irene dagegen gewehrt, das alles gewußt zu haben. Borokin lächelte über ihre Beteuerungen.
»Mein Täubchen«, sagte er freundlich, aber diese Güte war gefährlich wie das Zähneblecken eines Wolfes, »geben Sie sich keine Mühe. Keine deutsche Behörde würde Ihnen das glauben. Es werden Zeugen auftreten, die gegen Sie aussagen, man wird beeiden, daß Sie an den Treffs mit den Kontaktmännern teilgenommen haben.« Und dann verbeugte sich Borokin im Sitzen und sagte: »Es ist angenehm, mit einem so schönen Mädchen zusammenzuarbeiten.«
Das war vor zwei Jahren gewesen. Ein Jahr darauf – Irene hatte nie wieder etwas von Borokin gehört – erhielt ihre Mutter einen Brief aus Küstrin, daß der zurückgebliebene Onkel gestorben sei und ihr ein Haus und 8.000 qm Ackerland vererbt habe. Wenn sie selbst nach Küstrin komme, könne sie die Erbschaft antreten und dann, das nehme man an, verkaufen.
Frau Brandes fuhr nach Küstrin und wurde dort verhaftet mit der Begründung, im Krieg deutschen Werwölfen Unterschlupf gewährt zu haben (obgleich sie zu dieser Zeit schon auf dem Treck in den Westen war). Als sie in Untersuchungshaft saß, erschien Jurij Alexandrowitsch Borokin wieder in Irenes Wohnung und sagte:
»Nun ist es soweit, mein Täubchen. Sie können Ihre Mutter vor Strafe bewahren, wenn Sie ein kluges Mädchen sind und Ihre Schönheit in den Dienst der Völkerverständigung stellen.«
Und Irene Brandes sagte zu.
Seitdem hatte sie fünf kleinere Aufträge erledigt. Fotokopien von Staatsaufträgen, das Protokoll ihres Chefs über eine Besprechung in Tel Aviv … Nichtigkeiten, wie sie glaubte, aber für ihre Mutter ein neues Stück Weg in die Freiheit.
»Was denken Sie?« fragte Borokin jetzt, als sich Irene vom Anblick des Rheins und der Insel Nonnenwerth abwandte.
»Wann kommt meine Mutter frei?« fragte Irene Brandes hart.
»Nach Erledigung dieses neuen Auftrages.« Borokin schüttelte den Kopf, als ihn Irene kritisch ansah. »Ich habe die Vollmacht, Ihnen die Fotokopie der Freilassung Ihrer Mutter zu zeigen. Es fehlt nur noch die Unterschrift. Sie wird daruntergesetzt, wenn dieser Auftrag beendet ist.« Borokin griff in die Brusttasche, aber Irene winkte ab. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Nur noch dieses eine Mal, dachte sie. Dann ist Mutter frei. Dann werde ich Bonn verlassen, am gleichen Tag, und weit, weit weg gehen … nach München, oder an die Nordseeküste oder an die Ostsee. Nur weg von hier, wo vier Jahre lang jeder Atemzug Angst einsaugte, jedes Klingeln an der Wohnungstür das Herz vor Schreck stillstehen ließ. Und den Namen Borokin werde ich hassen wie den Satan.
»Um welche Fotokopie handelt es sich jetzt?« fragte sie rauh.
»Um gar keine. Es geht um einen Menschen.«
Irene Brandes sah Jurij Alexandrowitsch Borokin mit gesenktem Kopf an. Ihre umrandeten Augen glitzerten in der Sonne.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte sie.
»Kommen Sie, mein Täubchen.« Borokin sah schnell auf seine Uhr. »Wenig Zeit bleibt uns. Sie haben keinen Sinn für Pünktlichkeit. Ich fahre Sie. Ihren Wagen holen wir gegen Mittag ab.«
Borokin bezahlte beim Hinausgehen, dann stiegen sie in den unauffälligen dunklen Wagen des Kulturattaches und fuhren zurück nach Bonn. Auf der Zufahrtsstraße zum neuen Bundesverteidigungsministerium hielt Borokin am Straßenrand, holte eine Packung Zigaretten aus dem Rock und bot Irene Brandes eine Zigarette an. Rauchend saßen sie darauf im Wagen und
Weitere Kostenlose Bücher