Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
Die Wiener Vorlesungen.
Das Dialogforum der Stadt Wien
Im April 1987, vor dem Ende des Ost-West-Konflikts und lange vor der radikalen Durchsetzung des Hauptsatzes des Neoliberalismus, »there is no alternative«, wurden die Wiener Vorlesungen als Dialogforum der Stadt Wien mit einem Vortrag des renommierten Sozialwissenschaftlers und Herausgebers der Kölner »Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie«, René König, zum Thema »Die Stadt und die Wissenschaft« begonnen. Es war damals ein Versuch, in Wien, einer Stadt, in der es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in den zwanziger Jahren und wieder seit Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine sehr lebendige intellektuelle Kultur gab und gibt, eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu etablieren. Nach über tausend Vorlesungen und Podiumsgesprächen, die in neun Buchreihen dokumentiert werden, sind die Wiener Vorlesungen ein Stück erfolgreicher Wissens- und Wissenschaftsgeschichte Wiens.
Nach dem großen Erfolg des konzisen Vortrags René Königs, der der Stadt Wien damals den Rat gab, die Wissenschaft und ihre Institutionen »in die Stadt einzunisten«, haben noch im Jahr 1987 unter anderem die Herausgeberin der »Zeit«, Marion Dönhoff, die Psychoanalyse- und Psychotherapieprofessoren Bruno Bettelheim, Erwin Ringel, Walter Spiel und Hans Strotzka und Kardinal Franz König, der gemeinsam mit Bruno Kreisky in Österreich erfolgreich an einer Entspannung des Verhältnisses zwischen der katholischen Kirche und der Sozialdemokratie wirkte, vorgetragen. Seither skizzieren die Wiener Vorlesungen vor einem sehr großen und immer noch wachsenden Publikum in dichter wöchentlicher Folge ein facettenreiches Bild der gesellschaftlichen und geistigen Situation der Zeit.
Prominente Denkerinnen und Denker stellen ihre Analysen und Einschätzungen zur Entstehung und zur Bewältigung der brisanten Probleme der Gegenwart zur Diskussion. Das Anliegen der Wiener Vorlesungen war und ist eine Schärfung des Blickes auf die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit und der Analysen, Diskurse und Narrative, in denen die »Tatsachen« interpretiert und »gespiegelt« werden.
Die Wiener Vorlesungen stehen für Analyse und Kritik, für eigenständige Positionen auch gegen den Mainstream herrschender Begrifflichkeiten und Sichtweisen. Die Programmatik der Wiener Vorlesungen lautet: Aufklärung statt Vernebelung, Analyse statt Infotainment, Differenzierung statt Vereinfachung, Tiefenschärfe statt Oberflächenpolitur, Utopien statt Fortschreibung, Widerspruch statt Anpassung, Auseinandersetzung statt Belehrung. Diese Zielsetzungen wurden und werden jeweils sehr persönlich, disziplin- und themenbezogen in die intellektuelle Tat der Wiener Vorlesungen gesetzt.
Die Wiener Vorlesungen analysieren, bewerten und bilanzieren, befähigen zur Stellungnahme und geben Impulse für weiterführende Diskussionen und Aktivitäten im Sinne der Auffassung, dass Aufklärung – auch die Aufklärung der Aufklärung – noch immer und wiederum ein gleichermaßen unabdingbares wie tragfähiges Fundament demokratischer Gesellschaften ist.
Wichtig in Gesellschaft und Wissenschaft ist heute mehr denn je ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Kritik. Kritik muss als zentraler und integraler Bestandteil von Alltag und Arbeit ständig bewusst gemacht und gesichert werden. Der Schoß, aus dem Barbarei wächst, war und ist immer fruchtbar; es muss jedoch konstatiert werden, dass der radikale aktuelle Finanzkapitalismus und seine gesellschaftlichen Auswirkungen die Zurückdrängung von Öffentlichkeit und Demokratie, soziale Polarisierung, neue Kontroll- und Disziplinierungsfantasien – durchwegs demokratiefeindliche Phänomene in gefährlichem Ausmaß fördern. Daher haben die Wiener Vorlesungen im Jahr 2006 die eigenständige Reihe »Edition Gesellschaftskritik« ins Leben gerufen, die sich explizit mit Strukturen, Ausdrucksformen und Auswirkungen der Ökonomisierung im Dienst neoliberaler Politik auseinandersetzt. Im Hinblick auf den dualen Charakter menschlicher Handlungen in einem Spannungsfeld von »Sinn und Zweck« fördert die aktuelle Dominanz von auf Profit ausgerichteten Zielsetzungen die immer ausschließlichere Zweckorientierung von gesellschaftlichem und individuellem Tun. Das Postulat, dass die rasche Erreichung profitabler Ziele das einzig Richtige und Vernünftige ist und zu sein hat, drängt die sozialen und die
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