Begehrter Feind
ehrlich zu ihm gewesen war, als er ihr anvertraut hatte, weshalb er in Clovebury war. Oder er würde wütend, sie verhaften und ihr Ewan wegnehmen.
O Gott, sie könnte es nicht ertragen, von ihrem Sohn getrennt zu sein!
Die Angst drückte wie ein brennendes Gewicht auf ihre Brust. Ohne ihren Schutz wäre Ewan jede Sekunde der Gefahr ausgesetzt, dass Ryle ihn aufspürte. Ihr charmanter, gerissener Ehemann würde gewiss Zugang zu Dominics Bekanntenkreis finden, und er würde erst Ewan und dann Dominic umbringen.
Dazu durfte sie es nicht kommen lassen.
Mit steifen Fingern nahm sie das Hemd vom Tisch und hängte es zurück an den Wandhaken, bevor sie die losen Dielenbretter hochhob, um das Seidenkleid wieder hervorzuholen. Es schimmerte in ihren Händen, verhöhnte sie mit seiner außergewöhnlichen Schönheit.
Als sie das Kleid auf den Tisch legte, raschelte der Stoff wie Regen an einem Frühlingsnachmittag.
Eines Tages, bald, würde sie endlich wieder den Regen auf ihrem unbedeckten Haar fühlen, ihn sich aus dem Gesicht wischen und die Tropfen in Ewans Wimpern funkeln sehen.
Mit einem verträumten Lächeln schob sie das Kleid zurecht.
Freiheit, flüsterte der Stoff. Freiheit!
Nachdem sich Giselas Ladentür hinter ihm geschlossen hatte, blieb Dominic auf der Straße stehen. Er war erleichtert, dass es ihr gutging und er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Und er freute sich auf das Abendessen mit ihr und Ewan.
Dennoch konnte er das Unbehagen nicht abschütteln, das an ihm nagte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Er spürte es so deutlich wie den Staub, der in Wolken von der Straße aufstieg.
Nachdenklich massierte er sich die rechte Schulter, die er sich letzte Nacht verlegen haben musste. Vielleicht war er auch bloß übermüdet. Übermüdung trübte das Urteilsvermögen. Zwar hatte Gisela zeitweise nervös und unsicher gewirkt, aber in ihrer Schneiderei war nichts zu sehen gewesen, das seine Sorge rechtfertigte.
Trotzdem …
Ein Markthändler, der zwei schwer beladene Pferde führte, humpelte vorbei. Weiter unten schlenderten zwei Frauen die Straße entlang, die ihre Köpfe zusammensteckten und sich angeregt unterhielten. Eine Gruppe Männer hockte vor einem Karren, dessen eines Rad gebrochen war; offenbar überlegten sie, wie sie es am besten reparieren könnten.
Dominic betrachtete die Szene genauer, wobei sein Blick auf einem breitschultrigen Dunkelhaarigen verharrte, der hinter dem Wagen stand und sich auf der Straße umsah. Sein Gesicht war teils von einem Lederhut verhüllt.
Dominic wurde eiskalt.
Der Kerl war einer von Crenardieus Lakaien, denn in der Taverne hatte er in der Nähe des Franzosen herumgelungert. Von seinem jetzigen Standort aus hatte er freie Sicht auf Giselas Schneiderei. Niemand konnte kommen oder gehen, ohne dass er es bemerkte.
Gisela wurde beobachtet.
Oder spionierte Crenardieu Dominic hinterher?
Aus der eisigen Kälte in Dominic wurde kochende Wut. Von der Taverne bis hierher war ihm niemand gefolgt. Er mochte angeschlagen sein, aber dessen war er sich sicher.
Nur warum schickte Crenardieu einen seiner Männer, um Gisela zu beobachten? Er würde seine Schergen wohl kaum für eine solche Aufgabe bezahlen, wenn sie nicht irgendwie wichtig für ihn war.
Aber wie und warum?
Was auch immer hier vor sich ging, Dominic würde es herausfinden.
Während der Mann aufblickte und zur Schneiderei hinüberblinzelte, strich Dominic beiläufig seine Tunika glatt. Fürs Erste würde er den Anschein erwecken, sich einfach nur umzuschauen. Er musste vorsichtig sein, denn was immer er tat, durfte Gisela nicht gefährden.
Folglich widerstand er dem Impuls, sich direkt auf den Schurken zu stürzen, sondern schlenderte an ihm vorbei die Straße hinunter. Unwillkürlich ballte er die Fäuste, als er darauf lauschte, dass Schritte hinter ihm knirschten.
Zunächst hörte er Gemurmel aus der Gruppe der Männer, und dann folgte tatsächlich das Knirschen.
Wie erhofft.
Dominic ging grinsend weiter; die Schritte folgten ihm.
Weiter vorn war eine kleine Seitengasse, in die Dominic einbog. Hier lehnte ein Stapel Holzkisten an einer Hausmauer.
Hervorragend!
Dominic eilte hin und hockte sich hinter die Kisten, den Rücken gegen die Mauer gedrückt, deren Kälte sich sogar durch seine Kleidung und die Bandagen übertrug.
Er hörte, wie sein Verfolger den Eingang der Gasse erreichte.
»Merde!«,
schimpfte der Mann leise und kam auf ihn zu.
Fünf Schritte, zählte Dominic, sechs,
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