Begehrter Feind
noch im Schrank hatte. Es war gut, ihn jetzt auszutrinken, denn sie konnte ihn ohnehin nicht mitnehmen. Auf ihre Flucht würde sie nur solche Dinge mitnehmen, die leicht zu tragen waren.
Sie hörte Stiefelschritte aus der Schneiderei. »Hallo?«
Dominic!
Ihr Puls begann zu rasen. »Hier hinten!« Sie ging hinaus und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab.
Wie kühn und gutaussehend er wirkte, beleuchtet vom Licht, das durch die offene Tür hereinfiel – als würde er die Sonne befehligen. Seine bestickte Tunika trug er nicht mehr, sondern eine schlichte, gut sitzende im Grau eines Winterhimmels. Als er näher kam, wanderte ihr Blick über sein wirres Haar und die schön geschwungenen Lippen. Sie bemerkte seine trotzige Ausstrahlung.
Wie sehr er sie an Ewan erinnerte!
Zugleich erschauderte sie erneut, denn wie heute Morgen schon, lag ein unverkennbar sorgenvoller Ausdruck in seinen Augen. Er zeigte zur Straße. »Die Tür war offen.«
»Ich wollte frische Luft hereinlassen«, erklärte sie verwirrt.
Er nickte nur verhalten. »Hattest du Gäste?«
»Nein, ich habe erst vor kurzem zu arbeiten aufgehört und dann die Tür aufgemacht. Es war niemand da.«
»Aha.« Er sah sich im Raum um, und sein Blick verharrte bei dem Hemd am Wandhaken. Sie hatte gehofft, am Nachmittag noch daran weiternähen zu können, woraus nichts geworden war, weshalb sie heute Abend daran arbeiten müsste. Wenn sie die Nacht durchmachte, könnte sie es zusammen mit Crenardieus Auftrag fertig bekommen.
Dominic griff nach hinten und schloss die Tür. Als sie zufiel, sank der Raum in einen tiefen Schatten, der einzig von den Sonnenstrahlen durchbrochen wurde, die durch die Ritzen im Fachwerk drangen.
»Warum hast du die Tür geschlossen?«, fragte Gisela verwundert.
Er sah sie besorgt an, antwortete aber nicht.
»Mach sie bitte wieder auf!«
»Gleich.« Sein Blick wanderte von ihr zu dem Hemd. Dann ging er darauf zu, wobei seine Stiefelabsätze laut über die Dielen knallten. Nachdenklich griff er nach einem Ärmel und besah sich die unfertige Manschette.
Er sieht, dass ich den ganzen Tag nicht daran gearbeitet habe, und das wird ihn misstrauisch machen, schrillte es ihr durch den Kopf.
Gisela wurde entsetzlich heiß, und sie überlegte fieberhaft, wie sie ihn ablenken konnte. Schnell!
»Dominic, was ist los?«
Er zögerte lange genug, dass ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Dann sah er sie an. »Dasselbe könnte ich dich fragen.«
»W-was meinst du?« Sie wollte erstaunt klingen, aber die Worte kamen ihr viel zu matt über die Lippen.
»Dein Geschäft wird beobachtet.«
»Was? Von wem?«
Ryle. Er hat dich gefunden und ist gekommen, um dich zu töten!
Mit größter Mühe kämpfte sie gegen die Panik, die sie überkam. Nein! Ryle würde sie nicht bloß beobachten. Er würde hereinstürmen und seinem Zorn freien Lauf lassen.
»Von Crenardieus Männern«, antwortete Dominic.
Gisela hauchte einen Fluch. Crenardieu traute ihr also immer noch nicht. Er vermutete, dass sie fliehen könnte, bevor sie seinen Auftrag für ihn erledigt hatte. Dachte er, sie würde die Seide stehlen und verkaufen?
Oder rechnete er damit, dass sie ihn an Dominic verriet?
In ihr kochte bittere Wut hoch, die sie fast zum Würgen brachte.
Dominic ließ den Ärmel los und drehte sich zu ihr um. »Ich frage mich, warum Crenardieu deinen Laden beobachten lässt.«
»Das weiß ich nicht«, brachte sie mit Mühe heraus.
Lügnerin!,
schrie ihr Gewissen.
Wie kannst du den einzigen Mann belügen, den du liebst? Den einzigen Mann, den du je geliebt hast? Den einzigen Mann, den du jemals lieben wirst, bis zum Ende deiner Tage!
Ein verhaltenes Lächeln zeigte sich auf Dominics Gesicht. »Ich würde schwören, dass du es weißt, Gisela.«
Sie wollte schluchzen, so sehr schmerzte ihre Seele, als sie die Distanz spürte, die sich zwischen ihr und Dominic auftat, die einer Axt gleich das Vertrauen spaltete, das sie einst zueinander hegten und das ihre Liebe ausgemacht hatte.
Und wennschon! Heute waren die Umstände andere. Wie konnte sie ihn nicht belügen, wenn einzig ihre Lüge Dominic vor Ryle bewahrte?
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und rieb ihre Ärmelenden mit den Händen. »Crenardieu hat keinen Grund, mir zu misstrauen.« Damit zumindest mehrte sie ihre Lügen nicht.
»Das sagst du. Und dennoch weiß ich, seit ich heute Morgen hier war, dass mindestens zwei Männer deinen Laden beobachten. Sie taten so, als würden sie sich
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