Bei Anbruch der Nacht
gedreht. Diesmal aber brannte Licht im dritten Stock, die Läden standen offen, und von unserer Position aus konnten wir einen kleinen Ausschnitt der Zimmerdecke mit ihren dunklen Holzbalken sehen. Mr Gardner machte Vittorio ein Zeichen, aber der hatte schon zu rudern aufgehört, und wir trieben gemächlich weiter, bis die Gondel direkt unter dem Fenster hielt.
Mr Gardner stand auf, was die Gondel abermals in beängstigendes Schaukeln versetzte, und Vittorio musste schnell gegensteuern. Dann rief Mr Gardner hinauf, viel zu leise: »Lindy? Lindy?« Bis er endlich wesentlich lauter rief: »Lindy!«
Eine Hand schob die Läden noch weiter auseinander, und eine Gestalt trat auf den schmalen Balkon heraus. Nicht weit über uns hing eine Laterne an der Wand des Palazzo, aber ihr Licht war schwach, und Mrs Gardner kaum mehr als eine Silhouette. Ich sah aber, dass sie ihr Haar hochgesteckt hatte, vielleicht für das Abendessen vorhin.
»Bist du das, Süßer?« Sie beugte sich über das Balkongeländer. »Ich dachte schon, du bist entführt worden! Ich hab mir schreckliche Sorgen gemacht!«
»Sei nicht albern, Liebling. Was sollte in einer Stadt wie dieser denn passieren? Außerdem hab ich dir doch eine Nachricht hinterlassen.«
»Ich habe keine Nachricht gefunden, Süßer.«
»Ich habe dir eine Nachricht hinterlassen. Eben damit du dir keine Sorgen machst.«
»Und wo ist sie? Was steht drin?«
»Ich weiß nicht mehr, Liebling.« Mr Gardner klang jetzt gereizt. »Es war einfach eine ganz normale Nachricht. Du weißt schon – dass ich Zigaretten holen bin oder irgendwas.«
»Tust du das jetzt dort unten? Zigaretten holen?«
»Nein, Liebling. Das ist was anderes. Ich bringe dir jetzt ein Ständchen.«
»Soll das irgendwie ein Scherz sein?«
»Nein, Liebling, das ist kein Scherz. Wir sind in Venedig. So was tun die Leute hier.« Er deutete auf mich und Vittorio, als wäre unsere Anwesenheit Beweis genug für seine Aussage.
»Es ist ein bisschen kalt hier draußen, Süßer.«
Mr Gardner seufzte auf. »Dann hör doch von drinnen zu. Geh ins Zimmer zurück, Liebling, mach’s dir bequem. Lass einfach das Fenster offen, dann hörst du uns schon.«
Sie starrte noch eine Weile zu ihm herunter, und er starrte hinauf, keiner sagte etwas. Dann ging sie ins Zimmer zurück, und Mr Gardner wirkte enttäuscht, obwohl sie nichts anderes tat, als was er ihr geraten hatte. Wieder seufzte er und senkte den Kopf, und ich sah ihm an, dass er unsicher war, ob er weitermachen sollte. Deshalb sagte ich:
»Na los, Mr Gardner, fangen wir an. Fangen wir an mit ›By the Time I Get to Phoenix‹.«
Und ich spielte leise eine kleine Eröffnungsfigur, noch ohne Beat, einfach etwas, was zu einem Lied führen, aber genauso gut auch wieder verwehen kann. Ich versuchte es nach Amerika klingen zu lassen, nach trübsinnigen Bars am Straßenrand, nach breiten langen Highways, und ich glaube, ich dachte auch an meine Mutter, wie sie, wenn ich ins Zimmer kam, auf dem Sofa saß und die Plattenhülle in der Hand hielt, darauf eine amerikanische Straße, vielleicht auch der Sänger in einem amerikanischen Auto. Ich meine, ich versuchte es so zu spielen, dass meine Mutter es als Teil genau dieser Welt erkannt hätte: der Welt auf ihrer Plattenhülle.
Aber ehe ich begriff, was geschah, ehe ich in einen gleichmäßigen Beat verfallen war, fing Mr Gardner zu singen an. Er stand aufrecht in der Gondel, allerdings in ziemlich prekärer Haltung, sodass ich fürchtete, er könnte jeden Moment das Gleichgewicht verlieren. Seine Stimme jedoch klang genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte – sanft, fast rauchig, aber mit enorm viel Volumen, wie von einem unsichtbaren Mikro verstärkt. Und wie bei allen amerikanischen Sängern der Spitzenklasse war in seiner Stimme eine Mattigkeit, ja ein Anflug von Zögern, als wäre er keiner, der es gewohnt ist, sein Herz derart offenzulegen. Alle Großen machen es so.
Wir trugen diesen Song vor, der voll von Reisen und Abschied ist. Ein Amerikaner, der seine Frau verlässt. Er denkt ständig an sie, während er durch eine Stadt nach der anderen kommt, Strophe für Strophe, durch Phoenix, Albuquerque, Oklahoma, eine endlose Straße entlangfährt, wie meine Mutter es nie tun konnte. Könnten wir nur manches einfach hinter
uns lassen – ich glaube, das hätte meine Mutter gedacht. Könnte Trauer nur so sein.
Wir kamen zum Ende, und Mr Gardner sagte: »Okay, machen wir gleich weiter mit dem Nächsten. ›I Fall in Love
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