Bei Anbruch des Tages
Léonie.
»Keine Sorge, wir werden Weihnachten so wie immer mit unseren Kindern und Enkeln feiern. Und währenddessen werde ich an diese wunderschönen Stunden zurückdenken.«
Er sah sie mit lachenden Augen an. Léonie spürte einen Kloà im Hals, Tränen stiegen ihr in die Augen. Er strich ihr über die Wange.
»Würdest du mir bitte verraten, was heute los ist? Es ist schon das zweite Mal, dass ich dich weinen sehe.«
»Ich weià nicht ⦠Ich weià es wirklich nicht. Ich bin glücklich, aber trotzdem kommen mir ständig die Tränen.«
»Aber es geht dir doch gut, oder?«
»Es ist mir noch nie besser gegangen. Aber mein Arzt sagt, dass ich allmählich in die Wechseljahre komme. Deshalb bin ich wohl so empfindlich.«
»Wenn du willst, kann ich dir eine Hormontherapie verschreiben, aber vorher müsstest du ein paar Untersuchungen vornehmen lassen. Sprich doch mit deinem Frauenarzt darüber!«, riet Roger.
Als sie das Restaurant verlieÃen, mussten sie sich gegen den kalten Wind stemmen, bis sie den kleinen Platz erreichten, an dem Léonie geparkt hatte.
»Danke, dass du auch dieses Jahr gekommen bist. Du bist mein schönstes Weihnachtsgeschenk, liebste Léonie«, sagte Roger.
»Und du meines«, erwiderte sie, nicht ohne hinzuzufügen: »Wie lange werden wir uns noch auf die Art gegenseitig beschenken können?«
»Am besten, wir denken gar nicht darüber nach, sondern freuen uns an dem, was wir haben und in der Vergangenheit hatten. WeiÃt du noch, als du vor achtundzwanzig Jahren eine Autopanne hattest und ich dich gezwungen habe, den Reifen zu wechseln?«
»An diesem Morgen war ich auf dem Weg nach Morbegno, um meiner Schwiegermutter bitto, ihren Lieblingskäse, zu kaufen. Wenn man so will, war sie es, die mich in deine Arme gestoÃen hat«, erinnerte sich Léonie amüsiert.
»Gelobt sei deine Schwiegermutter!«, rief Roger.
Sie verabschiedeten sich mit einer langen Umarmung. Dann stieg Léonie in ihr Auto und fuhr davon. Auf der Fahrt nach Villanova erinnerte sie sich an ihre erste folgenschwere Begegnung.
Varenna
1
A n jenem Tag hatte sich Celina Catoni an ihre frischgebackeneSchwiegertochter Léonie gewandt und gesagt: »Als ich noch Auto gefahren bin, war ich manchmal nur des Käses wegen in Morbegno. Ihr Franzosen bildet euch so viel auf eure Käsesorten ein, dabei sind sie längst nicht so gut wie die italienischen. Was würde ich jetzt für eine Scheibe b itto geben!«
»Du weiÃt doch ganz genau, dass dir der Arzt Käse verboten hat«, sagte die Schwiegertochter.
»Die Ãrzte sollten lieber das Alter und den damit verbundenen körperlichen wie moralischen Niedergang verbieten«, hatte die Schwiegermutter traurig bemerkt.
Léonie hatte Fotos von der noch jungen Celina gesehen: Sie war einmal sehr schlank und wunderschön gewesen. Jetzt konnte sie sich vor lauter Fettleibigkeit kaum noch rühren. In die Villa war ein Lift eingebaut worden, damit sie leichter von einem Stockwerk ins andere gelangte.
Léonie hatte sie spontan umarmt und gesagt: » Maman, eines Tages fahre ich nach Morbegno und kaufe dir bitto , vorausgesetzt, du erzählst es niemandem weiter!«
»Du musst ihn bei den Fratelli Ciapponi kaufen. Wenn du in ihrem Laden stehst, wirst du dich um hundert Jahre zurückversetzt fühlen. Schon von drauÃen kann man den Duft wahrnehmen, nach Bergsalami, Vanillekeksen ⦠Ich weiÃ, dass all diese Leckereien an meinem jetzigen Gesundheitszustand schuld sind. Es stimmt schon, was meine Mutter immer gesagt hat: Die Schönheit der Jugend bekommt man geschenkt, aber dafür, wie man im Alter aussieht, ist man selbst verantwortlich. Ich habe gesündigt, und jetzt muss ich die Konsequenzen tragen.«
Mit dem gesunden Menschenverstand einer jungen Frau sagte sich Léonie, dass der eine oder andere Verstoà gegen die Anweisungen des Arztes Celina schon nicht umbringen, aber dafür glücklich machen würde.
Manchmal kochte sie ihr heimlich eine winzige Portion Schnecken, escargots à la provençale, oder Pilze mit Sahnes0Ãe. Celina war ihr dankbar für diese Köstlichkeiten. Sie blieben ihr Geheimnis, und im Gegenzug überschüttete sie ihre Schwiegertochter mit einer zärtlichen Mutterliebe, wie Léonie sie nie hatte erfahren dürfen.
Kurz vor ihrem ersten Weihnachtsfest als
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