Die Stimmeninsel
Robert Louis Stevenson
Die Stimmeninsel
Übersetzt von Heinrich Conrad
Keola war verheiratet mit Lehua, der Tochter Kalamakes, des weisen Mannes von Molokai, und er wohnte bei dem Vater seiner Frau. Kein Mensch war schlauer als dieser Prophet: Er las in den Sternen; er wahrsagte aus Leichen und mit Hilfe böser Kreaturen; er konnte in die höchste Gegend des Gebirges gehen, in die Zone der Kobolde, und da pflegte er Schlingen zu legen, um Geister der Vorfahren einzufangen.
Darum wurde kein Mensch so oft um Rat gefragt im ganzen Königreich Hawaii. Vorsichtige Leute richteten ihr Leben nach seinen Ratschlägen ein, kauften und verkauften und heirateten. Und der König ließ ihn zweimal nach Kona kommen, die Schätze Kamehamehas zu suchen. Kein Mensch wurde aber auch mehr gefürchtet: Von seinen Freunden waren einige infolge seiner Zaubersprüche dahingesiecht, andere waren mit Haut und Haaren in Geister verwandelt worden und waren verschwunden, so daß ihre Leute vergeblich auch nur nach einem Knöchelchen von ihren Leibern suchten. Es ging das Gerücht, er besitze die Kunst oder Gabe der alten Helden. Leute hatten ihn nachts auf den Bergen gesehen, wie er von einem Felsen zum anderen hinübertrat; sie hatten ihn im Hochwald gehen sehen, und sein Kopf und seine Schultern ragten über die Baumwipfel empor.
Dieser Kalamake war seltsam anzusehen. Er stammte aus bestem Blut in Molokai und Maui, war von reiner Abkunft; und doch war er weißer anzusehen als jeder Fremde. Sein Haar hatte die Farbe trockenen Grases, seine Augen waren rot und sehr blind, so daß ein Sprichwort auf den Inseln lautete: ›Blind wie Kalamake, der über morgen hinaussehen kann.‹
Von all diesem Tun und Treiben seines Schwiegervaters wußte Keola ein wenig aus dem allgemeinen Gerede, ein bißchen mehr argwöhnte er, und um den Rest kümmerte er sich nicht. Aber da war etwas, das beunruhigte ihn. Kalamake war ein Mann, der sich nichts abgehen ließ, weder an Essen noch an Trinken, noch an Kleidung; und für alles bezahlte er in blanken neuen Dollars. ›Blank wie Kalamakes Dollars‹ war eine andere Redensart auf den acht Inseln. Dabei verkaufte er nichts, pflanzte nichts, nahm keine Pacht ein – nur für seine Zauberkünste bekam er von Zeit zu Zeit was; und so war keine sichtbare Quelle da für so viel Silbergeld.
Eines Tages traf es sich, daß Keolas Weib auf einen Besuch nach Kaunakakai, auf der Leeseite der Insel, gegangen war, und die Männer waren fort, zum Fischen auf der See. Aber Keola war ein fauler Hund, er lag auf der Veranda und sah die Brandung an den Strand schlagen und die Vögel um die Klippen fliegen. Einen Hauptgedanken hatte er immer in seinem Sinn – den Gedanken an die blanken Dollars. Wenn er sich zu Bett legte, wunderte er sich in seinen Gedanken, warum es so viele waren, und wenn er morgens aufwachte, wunderte er sich, warum es lauter neue waren; und das kam ihm nie aus dem Sinn. Aber gerade an diesem Tag von allen Tagen beschloß er in seinem Herzen, er wolle es herausbringen; denn er hatte, scheint's, den Ort bemerkt, wo Kalamake seinen Schatz verwahrte, und das war ein verschlossenes Schreibpult an der Wohnzimmerwand unter der Lithographie Kamehamehas des Fünften und einer Photographie der Königin Viktoria mit ihrer Krone auf dem Kopfe. Ferner hatte er, scheint's, und gerade erst in der vorigen Nacht, Gelegenheit gefunden, hineinzugucken, und siehe da! Der Geldsack war leer! Dies war der Tag, an dem der Dampfer kam, er konnte den Rauch schon auf der Höhe von Kalaupapa sehen, und er müßte bald ankommen mit Ware für einen Monat, Büchsenlachs und Gin und allen möglichen seltenen Leckerbissen für Kalamake.
»Nun, wenn er seine Waren heute bezahlen kann«, dachte Keola, »dann werde ich bestimmt wissen, daß der Mann ein Hexerich ist und daß die Dollars aus des Teufels Tasche kommen.«
Wie er so dachte, da stand sein Schwiegervater hinter ihm, sah ärgerlich aus und sagte:
»Ist das der Dampfer?«
»Ja. Er hat bloß noch in Pelekunu anzulegen, und dann wird er hier sein.«
»Dann hilft es nichts«, versetzte Kalamake; »dann muß ich dich ins Vertrauen ziehen, Keola, in Ermangelung eines Besseren. Komm mit mir ins Haus!«
So traten sie denn zusammen ins Wohnzimmer; das war ein sehr schönes Zimmer, mit Papiertapeten und Bildern an den Wänden und auf europäische Weise mit einem Schaukelstuhl, einem Tisch und einem Sofa ausgestattet. Außerdem war darin ein Büchergestell, eine Familienbibel lag mitten
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