Beinssen, Jan
Aber der Rest der Story – die weiterentwickelte V2-Rakete, die tödliche Fracht und der Versuch der Erpressung durch eine stark aufgestellte verbrecherische Organisation – all das entspricht meiner Ansicht nach der Wahrheit. Und diese Wahrheit ist verifizierbar. Gemeinsam können wir Beweise suchen und diese publik machen.«
»Wie gesagt: Ich denke nicht, dass ich ein Interesse daran habe«, sagte Gabriele matt.
»Ich will Sie nicht drängen.« Cornelia Probst legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Aber vielleicht überlegen Sie es sich anders. Sprechen Sie mit Ihrer Freundin darüber! Sagen Sie ihr, dass es mir um eine seriöse Recherche geht. Dass ich entschlossen dazu bin, die Sache aufzuklären. – Und dass ich über gewisse Unterlagen verfüge, die dazu beitragen könnten, die Angelegenheit zu klären.«
»Unterlagen?« Gabriele sah auf.
Die Journalistin machte bereits Anstalten, aufzubrechen. »Ja. Wenn Sie meine Fragen beantworten, bin ich durchaus bereit, Ihnen Einsicht zu gewähren. Dafür muss ich allerdings auf etwas mehr Entgegenkommen Ihrerseits zählen können.« Sie streckte Gabriele ihre Hand entgegen. »Auf Wiedersehen. Und hoffentlich auf bald.«
»Ja, auf bald«, entgegnete Gabriele verdattert. Dann fiel ihr ihre eigentliche Rolle als Geschäftsfrau wieder ein. »Was ist denn nun mit dem Biedermeiersekretär?«
Cornelia Probst drehte sich noch einmal zu ihr um. »Oh, ja. Reservieren Sie ihn mir? Sagen wir für eine Woche?«
Gabriele sah sie scheel an.
»Okay, dann eben nur für drei Tage?«, reduzierte die Reporterin ihre Ansprüche und Gabriele willigte ein.
Kaum hatte die Journalistin das Geschäft verlassen, griff Gabriele zum Telefon. »Sina? Du wirst es nicht glauben: Gerade war Ulrike Meinhof bei mir. Sie will unsere Peenemünde-Story noch einmal ganz groß rausbringen. – Was? Nein! Natürlich nicht die echte Ulrike Meinhof, die ist doch längst begraben. Nur eine Reporterin vom Stadtanzeiger, die der Meinhof ähnelt. – Ob sie es ernst meint? Ich hatte zumindest den Eindruck.«
Nachdem Gabriele sich mit Sina für einen der folgenden Tage verabredet hatte, um das Ansinnen
der Journalistin gemeinsam durchzusprechen, blieb sie noch eine ganze Weile neben dem Telefonapparat stehen und zwirbelte nachdenklich die Schnur des Hörers zwischen ihren Fingern. Cornelia Probst hatte ein Thema angesprochen, mit dem Gabriele eigentlich längst abgeschlossen hatte. Eigentlich. Denn die Wahrheit sah so aus, dass sie in beinahe jeder Nacht von Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse in den Raketenbunkern von Peenemünde heimgesucht wurde. Sie wälzte sich regelmäßig in ihrem Bett, wachte schweißgebadet auf und meinte, erneut den Schmerz spüren zu müssen, den sie erlitten hatte, als ihre Kleider Feuer fingen.
»Nein!« Gabriele schüttelte es bei den Gedanken an die schrecklichen Stunden der Ungewissheit. An die klaustrophobischen Attacken, von denen sie in der Enge und Abgeschiedenheit der dunklen, klammen Bunkeranlage befallen wurde, als Sina und sie in der Tiefe eingeschlossen waren, ohne Hoffnung auf Rettung. An das Inferno, das ihre unbekannten Peiniger anrichteten, als sie ihre Spuren zu verwischen versuchten, indem sie Räume und Flure in Brand setzten.
Beide Frauen waren nur mit knapper Not entkommen. Sie hatten ihre Haut gerettet und waren körperlich genesen – aber Gabriele fragte sich in Momenten wie diesen, ob auch ihre Psyche jemals wieder gesunden würde.
Die Glocke an der Ladentür läutete und kündigte einen weiteren Kunden an. Gabriele tauchte aus ihrer
Selbstversunkenheit auf, strich sich das Kleid glatt, ging mit souveränem Ausdruck in den Verkaufsraum – und erstarrte zur Salzsäule.
»Friedhelm«, stieß sie ebenso überrascht wie abweisend aus.
Ihr Bruder sah sie mit seiner immergleichen Miene an, die man ebenso als ernsthaft, melancholisch, betrübt oder einfach nur gelangweilt deuten konnte. Friedhelm war mit seinen 43 etwas jünger als Gabriele, von der Kleidung und seinem Auftreten her hätte er aber auch gut zehn Jahre älter sein können. Friedhelm hatte eine fahle Gesichtsfarbe, kleine Augen in tief liegenden Höhlen und grau durchsetztes blondes Haar, dass er mit viel Pomade von der Stirn ausgehend zurückkämmte. Langsam öffnete er seinen knielangen, sandfarbenen Trenchcoat.
»Den kannst du anlassen.« Gabriele hielt ihm ihre Hände abweisend entgegen. »Ich habe gerade überhaupt keine Zeit.«
Friedhelm hob kaum merklich die rechte
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