Beinssen, Jan
ist ziemlich fies von dir, so auf mir herumzuhacken. Ich dachte, ich hätte dir einen Gefallen getan«, schmollte sie.
Gabriele baute sich vor ihr auf und holte zu einer weiteren Standpauke aus, doch dann besann sie sich. Sie strich Sina mit freundschaftlicher Geste übers Haar, sah auf ihre altmodische Wanduhr und beschloss: »Es ist fast sechs. Wir lassen den Laden für heute geschlossen. – Was hältst du anstelle der Quarkbällchen von einem Versöhnungsschlückchen?«
Bei dem Versöhnungsschlückchen – einem vollmundigen, barriquegereiften Spanier – blieb es nicht. Sehr bald hatten die Frauen die Flasche geleert, wobei Gabriele ihrer Freundin endlich alle Details über den Besuch von Cornelia Probst verriet. Sina hörte aufmerksam zu, dabei keimten auch in ihr die schmerzlichen Erinnerungen an die Zeit auf der Ostseeinsel Usedom wieder auf.
Sie hatten gerade die zweite Flasche geöffnet und sich ein provisorisches Abendessen aus Salami, Käse und Baguette hergerichtet, als Sina versuchte, das
Ansinnen der Journalistin zu bewerten: »Du bist hin-und hergerissen, was?«, fragte sie.
Gabriele kaute auf einem Salamistück und mied den Blickkontakt. »Ja, so kann man es sagen. Im Großen und Ganzen bin ich der Meinung, dass man alte Wunden nicht noch einmal aufreißen sollte.«
»Andererseits«, Sina blieb am Ball, »interessiert es dich brennend, ob Cornelia Probst dabei helfen könnte, die vielen bis heute offenen Fragen zu beantworten, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte Gabriele leise und stopfte sich sofort ein neues Salamistück in den Mund.
»Mir geht es nicht anders.« Sina nahm einen ausgiebigen Schluck aus ihrem Glas. Dann sagte sie energisch: »Ich bin Technikerin und gehe die Dinge gern analytisch an. Folgender Vorschlag: Lass uns rekapitulieren, welche Fakten uns von den damaligen Vorfällen bekannt sind. Ich meine: wirklich bekannt , keine Spekulationen! Und dann schauen wir, welche Punkte offen bleiben und ob es sich lohnt, sie zu klären.«
Gabriele lächelte milde. »Die nackten Fakten? Das ist schnell erledigt: Wir waren auf der Suche nach verschollenen Kunstwerken und vermuteten sie in einem Bunker auf der Insel Usedom. Statt auf Kunst stießen wir auf eine wieder instand gesetzte Raketenleitwarte. Von dort aus hatten Unbekannte Kontakt zu einem Interkontinentalgeschoss aufgenommen, das seit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auf einer Erdumlaufbahn kreiste. Als wir
den Fremden dazwischenfunkten, gaben sie ihren Plan auf und legten Feuer.«
»Fakt ist auch, dass durch das Feuer jegliche Beweise zerstört wurden und uns niemand unsere Geschichte abnahm«, ergänzte Sina. »Es bleibt also spekulativ, wer die großen Unbekannten waren, was sie wirklich vorhatten und …«
»… und ob es diese alte Nazirakete tatsächlich gab oder alles nur ein großer Bluff war.«
»Genau«, sagte Sina etwas resigniert. »Denn angekommen ist dieses ominöse Geschoss nirgendwo, und die hanebüchene Theorie, dass der Sprengkopf auf seinem Weg ins Ziel mit einem Fernsehsatelliten zusammenstieß und dadurch pulverisiert wurde, ist mehr als nur abenteuerlich. Im Grunde genommen tappen wir auch ein Jahr nach den Vorfällen vollkommen im Dunkeln.« Sina wollte erneut zum Glas greifen, doch ihre Freundin hielt sie zurück.
Gabriele sah sie intensiv an. »Dann lass es uns machen! Die Ungewissheit wird uns sonst bis ans Ende unserer Tage begleiten und uns zermürben.«
Als Gabriele ihre Hand ausstreckte, schlug Sina spontan ein. Sie kam nicht dazu, sich tiefere Gedanken darüber zu machen, ob ihre Entscheidung richtig oder aber ein Fehler war, denn in ihrer überschwänglichen Geste stieß sie das Weinglas um, das seinen Inhalt über Tisch und Boden ergoss.
Beide Frauen sprangen auf, suchten nach Lappen und Küchentüchern. Als sie das Malheur beseitigt hatten, beschlossen sie, dass es das Beste wäre,
wenn Sina heute Nacht bei Gabi übernachtete. Wie in alten Zeiten würde Gabrieles Sofa heute Nacht Sinas Schlafstätte sein.
»Ich nehme mir einen Schlummertrunk mit«, sagte Sina und goss sich ein letztes Mal ein, während ihre Freundin schon in ihr Schlafzimmer wankte. Sina zog sich bis auf den Slip aus, kuschelte sich in eine Wolldecke und fiel bald darauf in einen tiefen Schlaf.
3
Gabriele wachte als Erste auf. Viel zu früh. Draußen war es stockfinster, und ein Blick auf den Wecker bestätigte ihr, dass es mitten in der Nacht war. Seltsam, dachte sie sich. Normalerweise hatte sie einen festen
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