Beiss mich - Roman
zehn Kilometer von der nächsten menschlichen Behausung entfernt. Manchmal wird die Einsamkeit langweilig, doch der Vorteil, nie mehr über neugierige Nachbarn nachdenken zu müssen, wiegt vieles auf.
Die Überseereise war uns anfänglich wegen der schier unüberwindlichen Entfernung als eine Art Vabanquespiel erschienen, doch Schimanski hatte die Angelegenheit in seiner gewohnten Souveränität in die Hand genommen. Martin und ich brachten die Reise in bequem ausgepolsterten, belüfteten und beheizbaren Särgen im Frachtraum einer privaten Chartermaschine hinter uns, mit offiziellen Überführungspapieren, die Schimanski von irgendwoher beschafft hatte.
Der reibungslose Ablauf dieses Transports lässt mich hoffen, dass ich sogar eines Tages meine Eltern auf Mallorca besuchen kann. Schimanski meint, das sei kein Problem, sondern nur eine Frage richtigen Timings und minutiöser Planung, doch ich will mein Glück nicht herausfordern.
Und glücklich bin ich momentan wirklich.
Ihnen fällt auf, dass ich das Wörtchen momentan verwende?
Nun, Glück ist immer eine Momentsache, nicht wahr? Es sind diese kostbaren, kurzen Augenblicke, in denen wir glauben, dass wir Günstlinge des Himmels sind, weil wir so erfüllt sind vom Leben und der Liebe und allem, was uns das Dasein so einzigartig erscheinen lässt.
Glück ist beispielsweise, von meiner Mutter zu hören, dass sie Opa nun doch noch zu sich geholt haben. Er schläft viel und verträgt die Sonne ausgezeichnet. Außerdem wusste Mama bei unserem letzten Telefonat zu berichten, dass sie heuer zwei trächtige Schafe haben und dass Papa für das Spinnrad eine Spindel fabriziert hat, die sogar funktioniert, und dass Lucas eine Freundin hat, die zwar nur über wenig Busen, dafür aber über eine enorme orale Fixierung verfügen soll, weshalb er sich auch endlich wieder als ganzer Mann fühlen könne.
Glück ist es natürlich auch, wenn ich mit Solveig telefoniere und es dabei immer wieder hinkriege, ihr einen Besuch bei uns auszureden. Martin verbietet mir unter Androhung fürchterlicher Strafen, ihr unsere Adresse zu verraten, und ich muss gestehen, dass ich ihm in diesem Punkt leichten Herzens zu folgen vermag, obwohl sie mir ganz schrecklich fehlt. Seit Neuestem ist sie mit einem Drehbuchautor liiert, der für die Filmfirma eine schräge Vampirromanze schreiben soll. Handlungsgerüst und Charaktere hat sie maßgeblich mit entworfen, und nach allem, was sie mir dazu erzählt hat, verblüfft sie jeden, der an dem Projekt beteiligt ist, mit ihrem fundierten Hintergrundwissen.
Glück ist aber vor allem, mit Martin zusammen nachts durch die Wälder zu streifen. Die Welt ist dann voller Gerüche und Geräusche, die wir in uns aufnehmen, bis wir zum Bersten voll davon sind. Das Summen des Windes in den Baumkronen, das Plätschern und das Gluckern, das vom See her kommt. Tiere schreien in der Ferne oder huschen vor uns durchs Gehölz. Wir folgen unseren Instinkten, entledigen uns aller körperlichen Zwänge und fliegen dahin, Seite an Seite, schnell wie der Wind und lautlos wie Schatten.
Wenn ich dann die blasse Silberscheibe des Mondes in seinen Augen funkeln sehe, nehme ich seine Hand und spüre, wie ich vollends eins werde mit ihm. Der Rhythmus unserer Herzen ist derselbe, sie schlagen im Takt des wilden Liedes, das unser Blut für uns singt und das niemals endet, solange wir nur willens sind, ihm zu lauschen.
Über die Autorin:
Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem hat sie zuerst als Richterin und später als Rechtsanwältin ihre Brötchen verdient, bevor sie Juristerei und Robe schließlich endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man auf Dauer einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.« Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.
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