Bel Canto (German Edition)
sind nicht so ehrgeizig wie Ernesto, Gott sei Dank! Lasst uns hoffen, Ernestos Erfolge zu erleben, das würden wir seinem Vater wünschen. Uns reicht, wenn unsere Söhne fertig studieren, unsere Fabriken übernehmen, sie fortführen, vielleicht eine bescheidene aber feste Stellung erlangen. Dann werden wir gern die Augen schließen.
Vorläufig studierte Ernesto Philosophie und Geschichtswissenschaften und schlug die wohlhabendsten Bräute und die bedeutendsten Stellen aus, die ihm der Einfluss seines Vaters hätte verschaffen können. Freute das seinen Vater? Freute es ihn nicht? Wer weiß. Er hat seinem Sohn nichts verweigert, und wenn er ihm unter vier Augen seineMeinung gesagt hat, wusste davon niemand. Es genügte, den Ehrgeiz seines Sohnes zu billigen; möglich, dass er sich jünger als seine Mitschüler fühlte, die so beharrlich für ihre Sprösslinge die Mitgift anschafften und warme Plätze vorbereiteten; es reichte aus, dass Ernestos Vater sich jung fühlte und froh war, dass der Sohn ihn an seiner Lebensart nicht hinderte, sich nicht um die väterlichen Angelegenheiten kümmerte. »Der schöne Leone Olivo« ließ seinem Sohn ausreichend Freiheit und Mittel, vielleicht um jene von ihm zu erlangen.
Ernesto hat in der Hauptstadt einflussreiche Bekanntschaften; er ist Mitglied des Herrenklubs. Wir alle sind Mitglieder des Herrenklubs, lachten die einflussreichen Männer aus Ernestos Vaterstadt: weil wir die hiesige Gesellschaft lieber haben, besuchen wir den Klub nicht, aber wir sind alte Mitglieder, wir wissen doch, was dort passiert: man spielt Karten, wie man sie auch bei uns spielt. Vielleicht spielt man dort manchmal so hoch wie Francesco Doria? Es gibt dort zwei Universitätsprofessoren, würden wir genau sein, drei, aber nur zwei sind ordentliche Gäste: ein Jurist und ein Historiker; mit ihnen sitzt angeblich Ernesto am Tisch. Unser Ernestino will Staatsmann werden! Es wäre besser, er würde das Geschäft seines Vaters übernehmen. Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen.
Ernesto hat angeblich einige Tausend in die Zeitschrift einer fortschrittlichen Partei gesteckt. »Leone Olivo hat den Verstand verloren«, hat der Kolíner Bürgermeister erklärt. »Ich zweifele, dass das noch unser alter Leone Olivo ist, wenn er uns seine Jugend damit beweisen will, dass er hinter jedem Rock herrennt, ist das seine Sache, undwir, seine Mitschüler, wissen, was die Glocke geschlagen hat; glauben ihm die verrückten Weibsbilder, betrifft uns das nicht. Aber dass Leone Olivo mit ehrlichem Geld ein fortschrittliches Blatt unterstützt, eine kleine Schar von Phantasten, heißt für mich, Leone Olivo hat vollkommen den Verstand verloren: ist es nicht Pflicht der Väter, ihre Kinder vor dem Verderben zu schützen?!«
Einige von Leones Mitschülern bemühten sich, ihn zu rechtfertigen: »Wenn wir richtig überlegen, ist das eigentlich nicht Geld vom alten Leone, es ist Ernestos eigenes, von der Mutter geerbtes Geld.« Der Bürgermeister hat sie tadelnd angesehen: »Wenn wir bei unseren Urteilen Wortspiele gelten lassen, befinden wir uns auf der schiefen Ebene. Der Sohn Leone Olivos unterstützt ein fortschrittliches Blatt. Daran ist nicht zu rütteln. Ob das Studium der Philosophie und Geschichte für einen jungen Mann ein guter Anfang ist, darüber möchte ich nicht entscheiden; wenn als Fundament für eine Laufbahn die Mitgliedschaft im Herrenklub genügt, würde ich mir erlauben, daran zu zweifeln. Maßgebend aber ist der Anfang ihres Endes – das Mittun an einem Winkelblatt –, wenigstens unter ehrlichen Leuten. Obzwar Leone mein bester Freund war, würde ich ihm meine Tochter nicht zur Braut geben, seinen Sohn nicht in meine Fabrik nehmen.«
Die jungen Damen aus Kolín, die manchmal mit ihren Müttern in die Hauptstadt fahren, um zur Schneiderin oder zur Modistin zu gehen, die manchmal der Vater ins Restaurant mitnimmt, erzählen, wenn sie heimkommen, sie hätten Ernesto Olivo auf der Hauptpromenade gesehen: wiederholen für ihre Väter: das sei seine Beschäftigung!
Ernesto weiß, seine Heirat muss Sache seines Interesses und nicht der Liebe sein. Das bedeutet freilich nicht, dass seine unter schweren Lidern verborgenen Augen nicht an den Sommerkleidern der jungen Damen hängenbleiben würden. Ernesto glaubt, er bringe sie dadurch in Verlegenheit, aber sie vergnügen sich damit nur und betrachten Ernesto wie ein Schaufenster in der Hauptstraße, wo französische Romane ausgelegt sind, die sie nicht
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